Am Brunnen vor dem Thore
Da steht ein Lindenbaum:
Ich träumt' in seinem Schatten
So manchen süßen Traum.
Ich schnitt in seine Rinde
So manches liebe Wort;
Es zog in Freud' und Leide
Zu ihm mich immer fort.
Ich mußt' auch heute wandern
Vorbei in tiefer Nacht,
Da hab' ich noch im Dunkel
Die Augen zugemacht.
Und seine Zweige rauschten,
Als riefen sie mir zu:
Komm her zu mir, Geselle,
Hier find'st du deine Ruh'!
Die kalten Winde bliesen
Mir grad' ins Angesicht,
Der Hut flog mir vom Kopfe,
Ich wendete mich nicht.
Nun bin ich manche Stunde
Entfernt von jenem Ort,
Und immer hör' ich's rauschen:
Du fändest Ruhe dort!
Wilhelm Müller (Dessau, 7.10.1794 - Dessau, 1.10.1827). Deutsche Biographie
Der Lindenbaum (1821 - 1822). Die Winterreise
Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten,
Zweites Bändchen, Deßau 1824. Zeno.org. Meine Bibliothek
Franz Seraph Peter Schubert (Wien, 31.1.1797 - Wien, 19.11.1828). Deutsche Biographie
Video 4:47, YouTube, 8. November 2014