Siegfried Arno in "Ihr dunkler Punkt" (1928) Source: DIF
9 100 000 000 €. Davon gehen 6,3 Milliarden Euro an die ARD.
Was tun die Sender der ARD damit? Wenn ich das tägliche Fernsehprogramm aufschlage, so sehe ich immer wieder dieselben zwei Handvoll guter und unterhaltsamer Filme, James Bond 007, Tatort-Krimis der letzten zehn bis fünfzehn Jahre, mit 'nem bißchen Glück auch mal einen noch älteren, deutsche und österreichische Heimatfilme der 50er Jahre. Zu Zeiten nach Mitternacht gibt's manchmal gute amerikanische Filme der 40er und 50er Jahre, auch Miss Marple, es sind immer dieselben. Aber es geht auch anders. Im August habe ich in der Cinématèque von Paris, Rue Bercy, eine Retrospektive von ca. einem Dutzend Blake Edwards Filmen gesehen und bin vor Neid erblaßt. Auch ein deutscher Film, wie die von Blake Edwards im Originalton, Die Ratten, von Robert Siodmak (1955) lief, diesen wie fast alle von Blake Edwards habe ich zum ersten Mal gesehen. Was bringt die ARD? Den Rosaroten Panther und Frühstück bei Tiffany in der Dauerschleife. Soweit zum Fernsehen.
Nun zum Hörfunk, den ich hier in Perpignan, zugegeben, nicht mehr einschalte.
Heute erreicht mich eine Mail Alfred Wagners, von duo-phon records, er zeigt, daß nicht nur das Fernsehen, sondern auch der Hörfunk von der ARD zerstört wird, es ist den Verantwortlichen der "Anstalten" nichts heilig. Es geht um das Ende einer Sendereihe, zum Februar 2012.
Im WDR 4 "Melodien für ein gutes Gefühl" läuft bislang seit mehr als 25 Jahren Schellack Schätzchen, montags, von 21:05 - 22:00 Uhr, früher bereits eine Stunde vorher, zur besten Sendezeit. Redakteur ist seit neuestem Michael Breugst, Jahrgang 1972. Noch am 14. November 2011 kündigt WDR 4 die Sendung unter der Redaktion des Sängers und Rezitators Dirk Schortemeier an, der inzwischen in den Ruhestand getreten ist. Er hat die Sendung von Anfang an betreut. Der WDR wirbt, die Sendung sei "für alle, die in alte Platten hineinhören, sich über historische Tanz- und Unterhaltungsmusik in allen Farben informieren und mit Plattensammlern austauschen wollen. Häufig sind es Musikautoren oder Sammler, die diese Sendung selbst gestalten."
Reinold Louis, einem der Schellack-Sammler, reichen die Veränderungen, seine Schellack-Schätze aus einer mehr als 22 Jahre währenden Zusammenarbeit zurückzuziehen. Er schreibt auf seiner Website und dankt dabei dem alten Team: "Redakteur Dirk Schortemeier gab mir die Gelegenheit, in der Karnevalszeit den 'Zerbrechlichen Karneval' und bei entsprechenden Anlässen, wie 'runde Geburtstage' und dergleichen, auch ganzjährig Sendungen zu gestalten. Das habe ich auf WDR 4 in der Regel live und immer mit viel Freude gemacht - 22 Jahre lang. Als Dirk Schortemeier in den Ruhestand ging, und danach der Sendeplatz um eine Stunde auf 21.05 Uhr verschoben wurde, habe ich es vorgezogen, auszusteigen."
Dieser Text zeigt, daß der WDR den Stamm der freien Mitarbeiter fortgrault und so auf eine unschöne Art die Abschaffung der Sendung auf Raten betreibt. Die geringe Achtung vor den Schätzen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt die Formulierung "in alte Platten hineinhören". Jemand, der das schreibt, hat keine Ahnung, um was es bei der Unterhaltungsmusik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht, welche Bedeutung sie bis heute hat, in die hört man nicht hinein, sondern die genießt man, ob mit Rauschen oder, mit neuester Technik gereinigt, fast ohne. Die Rolle der Tradition, des Erbes wird vom WDR zugunsten von Zeitgeist abgewürgt. Reinold Louis hat das bereits bei seinem montäglichen Beitrag Karneval op Schellack erlebt; er muß 2004 den Liedern der Vorrunden der "Karnevalistischen Hitparade" weichen und wird auch nicht wieder aufgenommen, als der Sendeplatz ein Jahr später frei wird.
In der ARD gibt es keine zweite Sendung, die der Unterhaltungsmusik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewidmet ist und an die im Dritten Reich verfemten, verfolgten und ermorderten Künstler erinnert, indem sie auf erhaltene Originalaufnahmen zurückgreift, diese nicht nur erklingen läßt, sondern sie informativ-kritisch und dennoch unterhaltsam kommentiert. Die Sendung hat eine lange Tradition. Sie besteht seit 36 Jahren. 1975 wird sie unter dem Titel "Wider das Vergessen" im WDR eingerichtet und erfüllt ihren Zweck sehr erfolgreich. Schallplatten, die aus vielerlei Gründen im Dritten Reich verboten sind, verfemte musikalische Stilrichtungen, Musiker und Sänger, die aus politischen, rassischen und religiösen Gründen verfolgt werden, sie alle bilden ein thematisches Schwergewicht dieser Reihe. Sie nach dreieinhalb Jahrzehnten einfach aus dem Programm zu nehmen, bedeutet nichts anderes, als dieses Kapitel deutscher Kultur erneut der Öffentlichkeit vorzuenthalten.
Es geht noch viel mehr verloren, nämlich die Dokumentation des Zusammenbruchs unserer Kultur mit dem Beginn der Herrschaft des Dritten Reiches. Die vertriebenen Künstler werden wie im deutschen Film nur notdürftig ersetzt durch arische Komponisten, Musikanten und Sänger. Komponisten wie Paul Abraham und Werner Richard Heymann, Ensembles wie die Comedian Harmonists oder Weintraubs Syncopators von Friedrich Hollaender, Sängerinnen wie Marta Eggerth und Gitta Alpar sind nicht zu ersetzen. Ach, und mein Liebling Leo Monosson! ***seufz***
Niemand hat Paul Abraham zum Abschied die Hände gereicht, im Gegenteil, drittklassige Epigonen bemächtigen sich seines Werkes, als er aus Berlin abreist.
Diese Epigonen gehören ebenfalls in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und in die Sendereihe "Schellack Schätzchen", die Zarah-Anhänger mögen es mir verzeihen. Man vergreift sich 1938 nicht an dem jiddischen Lied Bei mir bisti scheyn, noch dazu, wenn man nicht einmal von weitem ahnt, welch ein Lied das ist, und man ansonsten in Nazi-Deutschland Karriere macht.
In die Sendereihe gehört ebenfalls die Bereicherung, die vor allem Frankreich und die USA durch die Emigration unserer Unterhaltungskünstler erfahren haben. Hier ist der Begriff "Bereicherung" durch Immigranten einmal angebracht. Nach 1933 und nach 1938 erfahren französische Chansons und amerikanische Songs durch emigrierte deutsche und österreichische jüdische Künstler einen qualitativen Aufschwung. Die Montage eines Jahres reichen nicht, um allein diesen Verlust im WDR 4 zu dokumentieren.
Mein Dank an diese Künstler wird von Jahr zu Jahr größer, weiß ich ihr Schaffen mehr zu schätzen, weil noch etwas anderes hinzukommt. Nach dem Zweiten Weltkrieg werden Rundfunkanstalten in Deutschland gegründet. 1945 bis 1947 sendet Radio Hamburg, ein Besatzungssender für die britische Zone, ab Herbst 1945 als Nordwestdeutscher Rundfunk (NWDR), dessen Sendegebiet auch Berlin und Nordrhein-Westfalen umfaßt, schreibt die ARD in einer Dokumentation über die Geschichte des Norddeutschen Rundfunks (NDR).
Ich sitze in meinem Ostwestfalen vor dem alten Radio meiner Großeltern und höre die wunderbare Musik. Sie ist mein Fenster zum Hof. Die Texte von vielen Schlagern der im Dritten Reich verfemten Künstler kann ich heute noch auswendig singen. Im Funkhaus arbeiten gemeinsam mit den Besatzern ehemalige Verfolgte, Juden und Nichtjuden, die an die Zeit vor 1933 und 1938 sowie an Produktionen der Künstler in der Emigration anknüpfen. Richard Tauber, Joseph Schmidt, Curt Bois, Friedrich Hollaender, Lilian Harvey&Willy Fritsch und viele andere begleiten mich in den Jahren meiner Kindheit. Dann beginnt die deutsche Eigenproduktion, zunächst werden die Amerikaner gespielt und nachgeahmt, auch Songs ins Deutsche übersetzt, aber bald gibt's die Heimatschnulzen fürs deutsche Gemyth, so etwa ab Mitte der 50er Jahre ist nicht mehr viel an Unterhaltungskultur. Die Montage eines Jahres reichen nicht, um die Nachkriegszeit auferstehen zu lassen. Das Archiv des NDR wird reichlich Material hergeben können. Das Hans-Bredow-Institut hülfe gewiß. Aber der WDR hat mit Juden und gepflegter Unterhaltung, in der sie nun einmal Meister sind, nicht viel am Hut. Und so wird die deutsche Kultur ein zweites Mal liquidiert, Adolf Hitler und Joseph Goebbels sind dazu nicht mehr nötig.
Die Sendung Schellack Schätzchen abzusetzen, ist ein Skandal! Ich wünsche, daß man den WDR mit Emails und Protestbriefen zuschütten möge!