Die Papier- wie die Onlineausgabe des Figaro sind heute voll von Artikeln über den Mord an der 13-jährigen Agnès. Er wird begangen am Mittwoch, den 16. November 2011, in der Auvergne, im Wald beim romantischen Ort Chambon-sur-Lignon. Täter ist Mathieu M., ein 17-jähriger, im Dezember 1993 geborener Schulkamerad, der die Schülerin mißbraucht, auf bestialische Weise ermordet, dann den Tatort anzündet und die Leiche verbrennt.
Die Familie ist im Department Gard, im Languedoc-Roussillon, ansässig. Der Vater des Schülers ist Gymnasiallehrer, die Mutter Buchhalterin. Er wächst auf mit zwei Schwestern. Das Leben der Familie ist unauffällig, der Sohn und spätere Täter, der Drogenprobleme hat, vergewaltigt im August 2010 eine Schülerin, kommt dafür vier Monate in Untersuchungshaft und wird anschließend unter strikten Auflagen entlassen, denen er Folge leistet. Drogen nimmt er nicht mehr. Er darf sich nicht im Gard aufhalten, auch nicht zum Besuch seiner Familie. Psychiater im Gard bekunden, er sei reintegrierbar, könne sich anpassen und stelle keine Gefahr für seine Umgebung dar, er bedürfe allerdings auf Grund seiner Persönlichkeitsstörung medizinischer Betreuung.
Der Vater gibt ihn nach seiner ersten Inhaftierung ins private Internat in den Cevennen, in Chambon-sur-Lignon, Kosten bis zu 12 000€, für Mathieu 5000€/Jahr. Es ist eine vor mehr als 70 Jahren von protestantischen Pfarrern gegründete schulische Einrichtung, in der "das Konzept der zweiten Chance wesentlich ist". Dort habe der Vater nichts über die kriminelle Vergangenheit seines Sohnes berichtet, der Schuldirektor sagt später, man hätte ihn nicht aufgenommen, wenn man sie gekannt hätte. Anne Rovan berichtet im Figaro, am 22. November 2011 (nicht online), daß der Schuldirektor den Vater kenne, sie seien beide Protestanten. Daher der Sonderpreis, daher keine weiteren Fragen?
Gleichzeitig bestätigt der Generalstaatsanwalt der Republik, daß Schuldirektor Philippe Bauwens den neuen Schüler in voller Kenntnis der Gründe für dessen Strafe aufgenommen habe.
Mathieu erzählt seinen Schulkameraden, er sei der Drogen wegen mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Zunächst in Puy-en-Velay, dann in seiner Schule, wird er psychiatrisch betreut. Ob die Psychiater von Mathieus Vergangenheit wissen, geht aus keinem der Berichte hervor. Am Freitag, den 18. November 2011, 48 Stunden nach dem Mord, führt der Täter selbst die Polizisten an den Ort des Verbrechens. Ein Militär meint am Sonntag: "Von Anfang an stehen wir nicht einem Verrückten, sondern einem absolut Perversen gegenüber". Eine Verurteilung als Minderjähriger brächte ihm 20 Jahre Haft, aber ein zur Tatzeit älter als 16-jähriger kann die Höchststrafe für Erwachsene erhalten, lebenslänglich.
Soweit zur Vorgeschichte, die schon entsetzlich genug ist, zeigt sie doch eines der zahlreichen Beispiele des Versagens von Justiz und Medizin, deren Verständnis für die Täter inzwischen für die Gesellschaft zur großen Gefahr geworden ist. Wie oft liest man über milde Urteile und Fehleinschätzungen von psychiatrischen Gutachtern! Jetzt rotieren alle, der Erziehungsminister der Justizminister, seit Donnerstag tobt es in den Zeitungen sowie auf Facebook und Twitter, Artikel, Kommentare. Agnès : les élèves crient leur colère sur les réseaux sociaux. Agnès: die Schüler schreien ihre Wut im sozialen Netzwerk hinaus. Da geht es schon einmal unter, daß einige Leser des Figaro in guter Muslimmanier meinen, das Opfer habe selbst schuld. Grand oreille beispielsweise meint, das Opfer sei wie eine 18- bis 20-jährige angezogen und aufgetakelt gewesen, die Mutter habe erklärt, Agnès hätte eine schwierige Entwicklung gehabt, und Grand oreille, das große Ohr, weiß auch, daß Agnès gewiß in Konflikt mit ihren Eltern gelebt habe, warum sie in dieses Internat der Zweiten Chance gekommen sei. Die Eltern müsse man zur Rechenschaft ziehen. Auch der Vater kriegt etwas ab von Grand oreille, der hätte seinen Sohn nicht in ein gemischtes Internat schicken dürfen.
Wer bis hierher Artikel, Gezeter, Rechtfertigungen ertragen hat, wer das noch abgebucht hat unter Faits divers. Verschiedenes, der bekommt von Christophe Cornevin den Rest. Der Figaro-Journalist interviewt einen 14-jährigen Klassenkameraden, den er Paul nennt. Der berichtet, daß im nachhinein manches klar werde. Eine Woche vor der Tat habe Mathieu gefragt, was eine Flasche Benzin koste. Alle hätten gedacht, er brauche das für sein Feuerzeug. Agnès sei sehr freundlich, umgänglich und witzig gewesen, keineswegs furchtsam. Eine gute Schülerin voller Pläne, vor allem habe sie Filmemacherin werden wollen. Mathieu habe man nicht mißtraut, er sei kultiviert und eher sympathisch erschienen. Computer-Freak, gut im Hacking, habe er ein Leben erfunden, er wäre 19 Jahre, und von seiner Vergangenheit habe er niemals berichtet, nur, daß er Drogen genommen habe.
Und nun wird Pauls Bericht zum Alptraum. O-Ton:
"Wann habt Ihr zum ersten Mal Verdacht geschöpft? - Letzten Mittwoch, nicht früher. Gegen 17:30 Uhr waren alle zum Unterricht zurück, es fehlte nur Agnès, was nicht ihre Art war, weil sie fleißig war. Als wir ihre Abwesenheit zur Abendessenszeit bemerkten, haben wir angefangen, Angst um sie zu bekommen. Trotz des Verbots vom aufsichtsführenden Lehrer haben wir begonnen, das Grundstück des Anwesens abzusuchen, dann sind wir in den benachbarten Wald gezogen.
Und dann? - Ungefähr 40 Schüler, Freiwillige aus allen Klassen, haben den Wald durchkämmt, an schwer zugänglichen Stellen, die sich über 18 Hektar erstrecken. Als es schon dunkel war, hörten wir auf eindeutige Weise zwei laute Schreie. Das klang wie zwei menschliche Schreie. Wir haben versucht, in die Richtung zu gehen, aber das war ein undurchdringliches Gebiet, niemand konnte mehr weiter. Dann drang ein Gestank von Verbranntem bis zu uns. In dem Augenblick haben wir an ein Waldfeuer irgendwo gedacht, aber wir haben Panik gekriegt. Gegen 20 Uhr haben wir unsere Suchaktion unterbrochen.
Ihr seid dann alle zurückgegangen ins Internat? - Ja. Das war in dem Augenblick, als die Schüler Mathieu überrascht haben, wie er gerade aus dem Wald kam. Er war allein und hatte sein Gesicht unter einem Schal verborgen. Es war erst später, als wir Kratzspuren auf seiner Wange gesehen haben. Ohne etwas zu sagen, hat er eine Stunde lang geduscht. Als er rauskam, haben die Klassenkameraden gesehen, daß er nicht normal war. Er schwitzte und schaute uns nicht in die Augen. Zuerst hat er erklärt, er hätte sich das Gesicht aufgekratzt, als er in eine Pfütze gefallen wäre, dann im Internat, dann im Gebüsch. Da haben wir 100%-ig begriffen, daß er mit dem Verschwinden von Agnès etwas zu tun hatte. Am nächsten Morgen haben wir unsere Zweifel dem Hauptlehrer mitgeteilt, der uns umgehend aufforderte, die Polizei zu alarmieren. Mathieu ist dabei abgeführt worden, aber wir wußten nicht, was man ihm vorwarf.
Ihr habt da noch nichts von Agnès' tragischem Ende gewußt? - Wir haben von ihrem Tod am Freitagabend erfahren. Alle Schüler saßen vorm Fernseher, als uns ein Verantwortlicher der Anstalt aufforderte, den Apparat auszuschalten, weil er "uns etwas zu sagen" hätte, bevor er fortfuhr, daß "man eine Leiche im Wald gefunden hat". Obgleich der Name nicht ausgesprochen wurde, haben alle verstanden, daß es sich um unsere Agnès handelte. Während mehrerer Stunden vergingen Lehrer, Mitglieder der Leitung, der Aufsicht und der Schüler in Tränen. Jetzt versucht jeder zu verstehen, warum, und vor allem wie ein potentieller Mörder unter uns aufgenommen worden ist."
Kommentatorin Laura faßt es so zusammen: "Wenn man das liest, könnte man sagen, daß es die Kinder sind, die den Fall gelöst haben. Dazu hat der Hauptlehrer die Kinder gebeten, die Polizei anzurufen. Warum hat er das nicht selbst getan? Das Mädchen ist am Nachmittag verschwunden. Sie haben nicht die Polizei informiert, nicht die Eltern? Und diejenigen, die in der Nacht durch den Wald gezogen sind, die hat man das machen lassen, ohne die Polizei zu informieren? Entweder ist das Interview ein einziger Schwindel, oder in der Anstalt herrscht eine vollständig laxe Haltung."
A lire le récit, on dirait que ce sont les enfants qui ont résolu l'affaire.En plus, le conseiller principal d'éducation aurait demandé aux enfants de prévenir la gendarmerie. Pourquoi ne l'a-t-il pas fait lui-même ? La fille a disparu dans l'après-midi ...On n'a pas prévenu la gendarmerie, ses parents ? Et ceux qui ont parcouru les bois dans la nuit, on les a laissé faire sans appeler la gendarmerie ? Soit le récit est bidon, soit il y a un laxisme total dans cet établissement.
Meine Erfahrung sagt mir, daß letzteres da herrscht, die Inkompetenz eines Lehrerkollegiums, das nichts kann, als den Schülern der "Zweiten Chance" Wohlbefinden zu bereiten, sie ohne große Mühen zu verwalten und ruhig zu stellen. Kommt die erste Herausforderung, bricht das System zusammen wie ein Kartenhäuschen.