13. Juni 2014

Frank Schirrmacher: Marcel Reich-Ranicki als Erscheinungsform


"Vor ein paar Jahren", wann genau, weiß er [in seinem Artikel, vom 16. Februar 2007] nicht mehr, fährt Dr. Frank Schirrmacher durch Berlin; er besucht alte Schulen, 'ne Wohnung in der Güntzelstraße, darin gibt's einen Sicherungskasten, wo er einen Buchstaben "M" findet, dann macht er noch eine Spritztour zum Gendarmenmarkt und fährt am Zeughaus vorbei, ganz in der Nähe der Humboldt-Universität, die aber sein Beifahrer nicht betreten will, weil er nicht eingeladen ist.

Update. Die Stoßgebete an Gott haben jetzt einen ihnen gebührenden eigenen Platz!

Der Beifahrer ist Dr. h.c. mult. Marcel Reich-Ranicki; dessen Bewerbung, von 1938, um einen Studienplatz an der Universität - damals heißt sie nach dem Kaiser Friedrich-Wilhelm - taucht im September 1999, "ein paar Monate" nach dem Erscheinen der Autobiographie des Marcel Reich-Ranicki auf. Wann genau, weiß Frank Schirrmacher nicht mehr. Jemand muß sie gesucht haben; wer, wo, und auf wessen Veranlassung? In der Universität scheint die Bewerbung verschwunden gewesen zu sein. Sie taucht unmittelbar nach dem Erscheinen der Autobiographie auf, nicht "ein paar Monate später". Autobiographie: 15. August 1999, Bewerbungsschreiben: September 1999.

Die FAZ, vielleicht Frank Schirrmacher selbst, schreibt also umgehend nach dem Erscheinen der Autobiographie an die Universität, in der Hoffnung, die möge das als Aufforderung betrachten, ihn zu ehren, den Marcel Reich-Ranicki. Den stellt er unter Vormundschaft, in dessen Namen schwingt er die Feder, ähnlich wie die Grünen für die armen Muslime: "Marcel Reich-Ranicki fragt sich, was die Berliner Universität sagen wird, wenn sie das Schriftstück sieht. Ob sie vielleicht doch noch antworten wird. Die Antwort kam, aber ganz unerwartet." Ich frage den Frank Schirrmacher, wieso er einen Brief schreibt, wenn Marcel Reich-Ranicki sich (!) fragt - und die Universität reagiert nicht "unerwartet", sondern anders, als erwartet. Die deutsche Sprache hat ihre Tücken.

In diesem Gestrüpp der gequälten Sprache und verwischten Spuren fährt Frank Schirrmacher fort in seinem Eifer, dem Marcel Reich-Ranicki zu einer Ehrung durch die Humboldt-Universität zu verhelfen, ihm, der "letzten Erscheinungsform jener literarisch-kosmopolitischen Intelligenz, die die Weimarer Republik prägte". Frank Schirrmachers Wille, Marcel Reich-Ranicki als Form: ihm zum Bilde schuf er ihn, und der alte Mann, der es nie verwunden hat, von Deutschen verwiesen, verfolgt und verachtet zu werden,  geht ein auf das miese Spiel der Selbstbeweihräucherung und deutschen Selbstbeehrung, wie Lizas Welt das treffend nennt.

Anläßlich der schamlosen Benutzung des Adolf Grünbaum durch Dani Levy wird sie sichtbar, hier wirkt sie erneut, die Derealisierung der Juden, der toten und der lebenden. Prof. Dr. Adolf Grünbaum, Prof. h.c. Dr. h.c. Marcel Reich-Ranicki, zwei "Erscheinungsformen kosmopolitischer Intelligenz", versetzt in eine irreale Welt romantischer Allmachtsphantasien.

Für Marcel Reich-Ranicki stellt sich die Welt anders dar, sehr körperlich sinnlich. Dem Moderator Dieter Kassel erklärt er über die Auswirkungen des Fehlens der Juden in Berlin und in anderen deutschen Städten auf die deutsche Kultur und besonders die Literatur: "Das kann sich jetzt ändern. Es sind ja Juden aus Russland gekommen, und unter denen sind nicht wenige literarisch begabte. Das kann man nicht voraussagen, was das bringen wird." Richtige Menschen wird das bringen, bedrohlich für Ihre und Ihresgleichen Position im Literaturbetrieb, Frank Schirrmacher, keine Erscheinungsformen Ihrer provinziellen Hirngespinste!

Der Germanistik-Professor Dr. Peter Wapnewski beteiligt sich ebenfalls an der Derealisierung des Marcel Reich-Ranicki. Er meint, daß "eine eminente souveräne Kenntnis der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, auch des 18. Jahrhunderts, und zwar nicht nur der deutschen", geehrt wird. Wie man eine Kenntnis ehren kann, und für was, das ist das Geheimnis eines Germanistik-Professors, der so in sein Museum gebannt ist, und sieht die Welt kaum einen Feiertag. An der Ehrung das Wichtigste sind wie bei Frank Schirrmacher wir, die "wir den Juden grausames Unrecht angetan haben". Marcel Reich-Ranicki wird nicht als er selbst geehrt, sondern gewissermaßen stellvertretend für Unzählige. Damit man nicht auf die Idee kommt, die Leistungen des Marcel Reich-Ranicki wären diesem zuzuschreiben, ergänzt Peter Wapnewski in einem Interview mit Leon Stebe:

"Ich glaube, dass die Wachheit, die Schnelligkeit, die Helligkeit, auch die Frechheit, die gelegentlich aus seinem kritischen Verhalten spricht, das alles das ein Teil auch der preußisch Berliner Gesinnung ist, wenngleich sie bei ihm auf besondere Weise eben wieder gebrochen ist, weil man ihm natürlich auch immer noch das slawische Element - in dem Fall das polnische anhört. Aber ich bin sicher, dass er in diese Gegend gehört, er ist mir unvorstellbar in Bayern oder im Rheinland."

Letztlich habe der Ehrendoktor seine besten Eigenschaften, die "Berliner Gesinnung", aus Preußen, von uns: "die Wachheit, die Schnelligkeit, die Helligkeit, auch die Frechheit". Diese Attribute aber zeichnen seit Hunderten von Jahren die jüdischen Intellektuellen in Europa aus, die Juden prägen den Berliner Witz, sie schaffen die einzigartige Atmosphäre, die von uns ab 1933 systematisch vernichtet wird und mit ihr die Juden, die sie verkörpern.

Davon unbeirrt, ehrt auch Peter Wapnewski uns; er spricht stellvertretend für Unzählige, die mit ihren Tugenden der Zielsicherheit und Entschiedenheit dazu beigetragen haben, dieses Werk in Gang zu bringen und bis Kriegsende weiterzuführen. Marcel Reich-Ranicki hat teil an den deutschen Tugenden, mit denen er "dieses Unheil für sich und seine Frau" überwindet.

Besonders groß scheint dieses Unheil aber nicht gewesen zu sein; der amtierende Präsident der Humboldt-Universität, der Theologe Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies, beschreibt es in seiner Ehrung für uns alle so: "Reich-Ranicki habe einst an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität die durch das Blech von Dienstmarken und Koppelschlössern repräsentierte menschenverachtende Rücksichtslosigkeit eines totalitären Systems erleben müssen." Wenn's weiter nichts ist als Blech!

Gebildet in ethnischer Zuordnung, macht Peter Wapnewski im Werk des Marcel Reich-Ranicki außer dem Judentum noch das Slawische, in dem Fall das Polnische aus, und wohin er gehört, darüber ist er sich absolut sicher: nach Berlin. Der Frankfurt-Sachsenhausener wird umziehen müssen; sein Glück, daß er nicht in Bayern oder im Rheinland wohnt; denn dahin gehört er überhaupt nicht, bestimmt Peter Wapnewski ex cathedra. Erich Mühsam, Heinrich Heine und Jacques Offenbach rotieren im Grabe ob der Zueignung, Charlotte Knobloch und Dr. Rachel Salamander haben die Aberkennung der Geschichte der Juden in München hoffentlich nicht vernommen!

Marcel Reich-Ranicki. Erscheinungsform: Ehrendoktor

Art: Liebhaber deutscher Literatur - Sorte: Feuilleton - Spezies: Jude - Erscheinungsweise: kosmopolitische Intelligenz - Erscheinungsbild: portabler Repräsentant - Gestalt: Sechsundachtzigjährig - Erscheinungsjahr: 1938/2007 - Erscheinungsort: Berlin - Erscheinungswelt: Deutschland.

Für Frank Schirrmacher und für Peter Wapnewski verkörpert Marcel Reich-Ranicki keinen eigenständigen Genotyp, um eine Definition aus der Biologie anzuwenden, sondern einen von ihren Gnaden abgeleiteten Phänotyp, eine Erscheinungsform, wobei Komponenten des deutschen, des Berliner, des slawischen Genotyps die Grundlage seiner Erscheinungsform bilden. Der Jude jedenfalls ist nichts Eigenständiges, der ist eine Erscheinung von etwas anderem. Jude ist der, den die anderen dafür halten, würde Jean-Paul Sartre, der Bruder im Geiste, dazu sagen: Le Juif est un homme que les autres hommes tiennent pour Juif: voilà la vérité simple d'ou il faut partir. Er wird von Nichtjuden definiert, und das Beste, das ihm von solchen geschehen kann, die nicht gleich auf Vernichtung aus sind, ist die Bescheinigung, er falle nicht als Jude auf; deshalb streichen sie bei ihm als nichtjüdisch definierte positive Eigenschaften heraus: deutsche, berlinerische, slawische, polnische [sic!], "die Wachheit, die Schnelligkeit, die Helligkeit, auch die Frechheit".

Sie verweigern den Juden ihre Originalität, ihre Existenz als Juden. Das müssen diese sich gefallen lassen, weil Juden bei uns nur noch Einzelpersonen sind, die keine Verbindung zu einer größeren Gemeinde des eigenen Genotyps haben, Monaden quasi, le juif errant. Mit denen kann man nach Gutdünken verfahren, sie können uns unseren Alltag verschönern, in dem man den einen oder anderen von ihnen ehrt: "Dieser Tag heute, das sei gesagt, ist wichtiger für uns als für ihn. Wir können unseren Kindern davon erzählen oder den Enkeln ...." weil Marcel Reich-Ranicki einmalig ist, und "einer wie er nicht mehr ist und nicht mehr kommt". So ähnlich wird das Sittendrama Les enfants du paradis, Children of Paradise, Kinder des Olymp von Filmkritikern eingeschätzt: einmalig, nie erreicht. Marcel Reich-Ranicki kann stolz sein, daß Frank Schirrmacher ihn so einordnet wie einen Film.

Was aber nicht nur für den zum Phänotyp reduzierten Juden, sondern auch für die kulturelle Entwicklung unserer Gesellschaft schwächend bis tödlich wirkt, das ist die anmaßende Zuordnung zu unserem Genotyp. Wir ersparen uns die Mühe, eigenen Witz und eigene intellektuelle Präzision zu entwickeln. Leben blüht aber durch die Wechselwirkung zwischen Geno- und Phänotyp. Man sieht's an Frank Schirrmachers Verlautbarungen, die wenig angekränkelt sind von "Wachheit, Schnelligkeit, Helligkeit, und Frechheit". Er weiß nicht einmal mehr, wann die Autobiographie des Marcel Reich-Ranicki erschienen ist, und wann seine Bewerbung zum Studium gefunden wird. Warum? Es ist ihm nicht wichtig!

Einen Juden, "wie er hier geht und steht", auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten auszustellen als einmalig, als, wie Frank Schirrmacher sich ausdrückt, "unseren sehr portablen Repräsentanten: So einen Kerl wie Sie [sic!], lieber Marcel Reich-Ranicki, haben wir zeit unseres Lebens nicht gesehen und werden wir nie wieder sehen", das ist nicht nur ätzend, sondern vernichtend - für den Schausteller; denn der lebt nur durch den anderen, dessen Leistungen er sich zuordnet.

Lizas Welt zitiert dazu Eike Geisel: "die einst Ausgestoßenen sich auf jede nur denkbare Weise einzuverleiben“, habe er dazu in Konkret  vor anderthalb Jahrzehnten den deutschen Versuch genannt, die "Eigenschaften zu verzehren", die man in die Juden als Schirrmachersche Erscheinungsformen hineinprojiziert: "Im Unterschied zur selbstlosen Niedertracht der Nazis gehorcht diese frivole Kommunion dem ganz eigennützigen Zweck jener 'erwachsenen Form nationaler Identitätssuche', deren heimliche Devise lautet: am jüdischen Wesen soll Deutschland genesen."

Für Frank Schirrmacher ist Marcel Reich-Ranicki substanzlos, eine Erscheinungsform unseres Genotyps aus der Zeit der Weimarer Republik. Er bestimmt, welche Erscheinungsform Marcel Reich-Ranicki heute haben soll. Im Dritten Reich ist es ebenso: nichtjüdische Deutsche bestimmen welche Erscheinungsform den Juden gestattet ist: Wer Jude ist, bestimme ich, soll mal Karl Lueger, mal Hermann Göring gesagt haben. Jean-Paul Sartre sagt es ebenso. Die Muslime definieren das qua Religion Islam: der Dhimmi hat die Erscheinungsform, die ihm der Muslim zubilligt. Das kann nach Zahlung der Jizya ein Jahr vertraglich abgesichertes Leben bedeuten oder Kopf ab.

Genotyp und Phänotyp

Eine kurze Erklärung von Genotyp und Phänotyp gibt Ulrich Helmich. Die Stanford Encyclopedia of Philosophy und der Evolutionsbiologe Prof. Dr. Andreas Wagner, von der Universität Zürich, helfen weiter. Aus den Definitionen geht hervor, daß es eine Wechselwirkung zwischen beiden gibt - alles andere ist mehr so, wie es Eike Geisel beschreibt: Kannibalismus.

Mein Hinterher-Ruf: Artikel, vom 21. Februar 2007 - Links aktualisiert, 13. Juni 2014