13. Juli 2012

Karl Kraus und die Gleichmacherei des Herrn Stefan Zweig

Pretiosen

Herr Stefan Zweig, heute einer der repräsentativen Schmuser der europäischen Kultur, würde es mir unmöglich machen, in der Seichtheit seiner tiefen Sätze nicht zu versinken, wenn ich mir in mühevoller Praxis nicht doch eine gewisse Resistenz erworben hätte, um mir’s an der Stelle genügen zu lassen, auf die mein Blick gerade fällt.

Dreißig, ja vierzig Jahre übt und vertieft Sigmund Freud seine Methode und hätte er die tausend und aber tausend Beichten der ihm anvertrauten Seelen in der Schrift festgehalten, es gäbe kein Buch der Weltliteratur, das ihm dokumentarisch gleichte.

Hier kann man nur sagen: Aufgewachsen bei Opitz! Daß "gleichen" schwachförmig gebraucht wird, dürfte seit eines Olim Zeiten, der die Welt noch ohne Neue Freie Presse geschaut hat, nicht der Fall und selbst damals nicht üblich gewesen sein. Es kann hier aber auch ein solcher Hang nach sprachlichen Pretiosen mitgespielt haben, der nicht die abgestorbene Form ergreift, sondern eine vorhandene, wenngleich seltene, in ihrer Bedeutung mißversteht und für was Kostbares hält. Dann wäre Herrn Zweig dasselbe passiert wie Herrn Salten, der auf einmal "schweigte", weil er diese Form in einer Auslage gesehen hatte, ohne zu wissen, daß sie so viel bedeutet als: schweigen machen, beschwichtigen, also die Tätigkeit, die man gegenüber Schwätzern anwendet. "Gleichen" (gleichte, gegleicht) ist ein eben solches Faktitivum wie schweigen (schweigte, geschweigt) und bedeutet - im Gegensatz zu "gleichen, glich, geglichen" = gleich sein - so viel als gleich machen, glätten, in Übereinstimmung bringen. Eher kann das Faktitivum "schweigen" stark abgewandelt werden (ich schwieg ihn), als schweigen im Sinn von "nicht sprechen" schwach.

Und das Faktitivum "gleichen" hat in Zusammensetzungen durchaus die starke Abwandlung, so daß die Tätigkeit des Gleichmachens dann nicht anders konstruiert wird als die Eigenschaft des Gleichseins. Es wird also "verglichen": wenn ich nicht eine Sache als solche gleich mache (glätte) oder reale Dinge in Übereinstimmung bringe (Münzen, Gewichte), sondern wenn ich eine Sache einer andern gleich stelle oder sie an ihr messe; doch kann sie auch als solche "beglichen" oder "ausgeglichen" werden (wobei allerdings mit einer vorgestellten Forderung oder Rechnung verglichen wird). Nur im rein mechanischen Sinn wird etwas "gegleicht"; aber selbst da "angeglichen". Herr Zweig hat also irgendwo "gleichte" [im Almanach der Psychoanalyse für das Jahr 1927, S. 26, geändert in gleichkäme] in der selteneren Bedeutung gefunden und diese mißverstanden, oder vielleicht doch die abgestorbene, niemals lebendige Form für seinen reporterhaft normalen Sinn gewählt. Jedenfalls gedachte er sich mit etwas Kostbarem zu schmücken. ...

Böse, böse! Weiter hier: Die Fackel, Heft 726-729/1926, XXVIII. Jahr, S. 55f.