13. Dezember 2011

Götz Alys eingefahrener Irrweg


12.12.2011 Erklärt deutscher Neid auf jüdische Aufsteiger den Holocaust? Aus der internationalen Mobilitätsforschung hat der schreibfreudige Historiker Götz Aly keine Kenntnisse abgerufen.
Von Hans-Ulrich Wehler

Ein lesenswerter Artikel des Emeritus für Allgemeine Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Universität Bielefeld, aber bereits in einer Predigt (sic!) zum Reminiscere, dem zweiten Sonntag der Passionszeit 2010, hat der Schwätzer alles gesagt, was ihn kompatibel macht mit der deutschen Antisemitismusforschung Marke Wolfgang Benz, mit dem Protestantismus Marke Margot Käßmann, den MSM Marke Süddeutsche Zeitung und dem offiziellen Judengedenken, von der Bundesregierung bis zum ZdJ.

Mathematik der Ethik. Zehn weniger neun ist null

Ausgeplünderte tote Juden dienen zur Erklärung des Neunten Gebotes


Götz Aly hält eine Predigt zum Neunten Gebot "am Beispiel der Judenverfolgung". Wieder geht's in die Vergangenheit, einmal mehr gedenkt man der toten Juden, es gibt heute anscheinend nichts Angesagteres als die Beschäftigung mit "Neid und Gier in Darmstadt" zur Zeit des Dritten Reiches:

Immer, wenn du denkst es geht nicht mehr,
kommt von irgendwo 'n Jude her,
daß du ihn noch einmal wieder zwingst
und von Totenschein und Beute singst.
Leichter trägst des Alltags harte Last
und wieder Kraft und Mut und Glauben hast.


Über den Raub an Juden habe ich ausführlich am Beispiel der Firma des Alfred Leschnitzer berichtet, im Artikel Leschnitzer - Konfektion - Juden in Krems, über Wortschöpfungen wie Entjudungsauflage, Judenabgabe, Zwangsentjudung, und über die schleppende Behandlung von Entschädigungsanträgen nach dem Krieg.

Götz Aly versucht sich am Neunten Gebot: Liebe Gemeinde!

Mit dem Gebot "Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen" allein ist nichts ausgesagt, im Gegenteil, es lockt auf die falsche Fährte. Götz Aly beginnt: Die Zehn Gebote "betreffen das Verhältnis der Menschen zu Gott, insbesondere verbieten sie den Menschen die Vergottung des Irdischen, den selbstgefälligen Tanz um das Goldene Kalb, den Götzenglauben, der das Paradies auf Erden verspricht. Davon handeln die ersten drei Gebote dieses alten, knapp gefassten Gesetzeswerks, des Dekalogs. Die folgenden sieben Gebote beinhalten Regeln, mit deren Hilfe die Menschen den Haus-, Stadt- und Landfrieden wahren, Rechtsordnungen begründen, Faustrecht und Willkür zurückdrängen können."

Alle zehn betreffen das Verhältnis des (!) Menschen zu Gott, des einzelnen, es gibt kein "insbesondere", kein Gebot ist wichtiger als das andere, der selbstgefällige Tanz um das Goldene Kalb, der Götzenglauben, der das Paradies auf Erden verspricht, werden nicht hervorgehoben. Es handelt sich bei den Geboten nicht um Regeln, sondern um Kategorien der Ethik und Moral. Man meint ja auch nicht, die Artikel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland wären Richtlinien zu Ausführungsbestimmungen des Strafgesetzes.

Götz Aly sieht, daß die beiden Gebote Neun und Zehn zusammengehören, die darf er aber nicht zusammen behandeln, weil "Weib, Knecht, Magd, Vieh, noch alles, was sein ist", vom Stadtpfarrer an den ausgezeichneten Krimiautor Heinrich Steinfest vergeben sind, und so bleibt ihm "Haus". Die Gebote werden zerfleddert, und vor Schreck kann Götz Aly nicht mehr richtig zählen: "Die Gebote vier bis acht verbieten den Diebstahl, den Mord, den Ehebruch und die falsche Beschuldigung. Sie handeln von der Untat selbst." Ich wüßte gern, wieso das Vierte Gebot, Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß dir's wohlgehe, und du lange lebest auf Erden, eine Untat verbietet.

Man erfährt, daß der Stadtpfarrer ihm den Auftrag erteilt habe, anhand des Neunten Gebotes "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus" über die Judenverfolgung zu sprechen, insbesondere über die sogenannte Arisierung des Eigentums der Juden in der Zeit des nationalsozialistischen Deutschland. Was soll er groß sagen darüber, Musike liegt im Rest, in Weib, Knecht, Magd, Vieh.

Götz Aly umgeht den Auftrag, man könnte auch sagen "Thema verfehlt", und redet doch von Menschen und Mobilien, und er geht im folgenden aus vom typischen Zerrbild des im Gegensatz zum einfachen "Arier" reichen und klugen Juden. Wenn dem so wäre, warum sind auch arme und verarmte, alte und kranke Juden verfolgt und umgebracht worden? Was die Reichen angeht: Warum nehmen sich die Zukurzgekommenen nicht der erfolgreichen "Arier" an? Sie sind in Deutschland in weitaus größerer Anzahl vorhanden als reiche Juden. Was ist mit Neid und Gier ihnen gegenüber, Klassenkämpfer würden sagen mit der Schaffung von sozialer Gerechtigkeit? Und was ist mit den stein- und stinkreichen deutschen Antisemiten? Sind sie auch von Neid und Gier getrieben, oder ist es doch eher der Judenhaß, der sie leitet?

Relativierung der Verbrechen an den Juden

Wie die herrschende Lehrmeinung heutzutage, kann auch Götz Aly sich nicht enthalten, die Einmaligkeit der Verbrechen an den Juden durch die Deutschen zu relativieren. Er hält es wie viele andere, er läßt die Juden selbst sprechen. Die Juden machen es untereinander ebenso, es ist keine deutsche Besonderheit, sich Vermögen und Leben der Juden anzueignen. In 1. Könige 21, 1-16 werde berichtet, wie derartiges geschehen kann. Die Verfolgung, Ausplünderung und Ermordung der Juden ist "derartiges"!

Die Verfolgung der Juden ist weder im Islam noch im Christentum des Neides und der Gier geschuldet, die sind Folge und Dreingabe; es zählt allein die Tatsache, daß sie Juden sind, ob arm oder reich. Der Grund für den Haß ist DAS WORT, es sind die Zehn Gebote, von denen niemand sagen kann, er kennte sie nicht. Der Jude Jesus predigt eben diese Lehre.

Götz Aly und die Geschichte des Antisemitismus: Liebe Gemeinde!

Das Begehren von Häusern ist für eine Predigt allein nicht tragfähig, und so schweift Götz Aly ab in die Geschichte des Antisemitismus: Wie verhielt es sich vor rund 70 Jahren mit den Juden in Darmstadt? Ein bißchen Raul Hilberg, Entlassungen, Arisierungen, Vermögensteuern, gesperrte Gelder, Zwangsarbeit und Lohnkürzungen, ein bißchen Daniel Jonah Goldhagen, das eliminatorische Programm und seine Institutionen, und es geht direkt zur Umsiedlung der Juden aus dem Volksstaat Hessen, ab März 1942.

Nebenbei wird deutlich, daß Neid und Gier keine wesentliche Rolle spielen, sondern die Ideologie, der Judenhaß. Götz Aly ist über die Darmstädter empört: 1288 wurden in das Konzentrationslager für alte Leute Theresienstadt verschleppt - ihres üppigen Vermögens wegen? Weder für die Darmstädter noch für die anderen Deutschen und Österreicher ist der Grund für ihr Tun, daß sie scharf auf die Besitztümer der Juden sind. Später erst begehren sie, als sie sehen, wie leicht man darankommen kann, oder andersherum: Niemand hätte sich an den Juden vergriffen und bereichert, wenn er sie nicht abgrundtief gehaßt hätte.

Götz Aly zitiert die Rede von Thomas Mann, vom November 1941, darin erwähnt dieser das Ausplündern nicht, weil es nicht wesentlich ist, dann springt Götz Aly in seiner Geschichtsbetrachtung zurück vor 1933, mit den Wahlen 1932 und 1933 hätten sich im Zeichen der Rassenlehre viele Christen von einem der wichtigsten Grundsätze ihres Glaubens ab(gewandt): Jeder Mensch ist Ebenbild Gottes. Sie verleugneten Gott, vergotteten ihre weltlichen Führer und gerieten auf die Bahn des Bösen. Es ist aber hier so wie immer, der Verstoß gegen ein Gebot, die Mißachtung eines Verbotes bedeutet den Verstoß gegen DAS WORT.

Es folgt die Aufzählung enteigneter jüdischer Firmen, Oppenheim, Morgenthau, Baar, Rothschild, Tietz, Buchdahl. Am Beispiel des von der Darmstädter Geschichtswerkstatt geschilderten Falles der Firma Leonard Tietz A.-G. wird deutlich, daß Begriffe wie Neid und Gier sowie "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus" nicht greifen.

Was die kleinen materiellen Vorteile angeht, kann man zynisch fragen: Was sollten die Nachbarn und Kollegen der Deportierten denn anderes tun, als deren Habe auf die eine oder andere Weise an sich zu bringen, Schnäppchen, Hausrat und Wäsche, ja selbst eingewecktes Obst und Marmeladenvorräte, sollten sie etwa verrotten? Es ist nicht durch die Gebote 9 und 10 zu erklären, und das Gewissen ist diesen Bürgern schon viel früher abhanden gekommen, die Regierung brauchte ihnen keine Gewissensfessel überzustreifen, solches könnte eine Regierung gar nicht. Das Lied "Die Gedanken sind frei" stammt aus dem Jahr 1780. Der Grundgedanke des Liedes findet sich jedoch schon im 13. Jahrhundert bei Freidank (1229: "Diu bant mac nieman vinden, diu mine gedanke binden") und Walther von der Vogelweide (etwa 1170 bis 1230; "Sind doch Gedanken frei"), wie auch bei dem österreichischen Minnesänger Dietmar von Aist (12. Jhd.): "Die Gedanken, die sind ledig frei", schreibt Freiklick.at.

So ist es, und so hat sich auch eine Minderheit der Deutschen und Österreicher verhalten, von den aktiven Widerstandskämpfern nicht zu reden, aber Götz Aly bedient sich lieber der Mär vom gewissensgefesselten Volke. Das aber hat schon, siehe die Leonard Tietz A.-G., im Jahre 1933, vor der 1938 systematisch wirkenden Arisierungsmaschinerie, vom Schicksal der Enteigneten nichts mehr wissen wollen. Die Deutschen brauchten kein Geheimnis, keine Offerte, keine Marmeladenvorräte, die ihnen geboten wegzusehen, dass ihre Mitmenschen in den Tod deportiert wurden, sie haben auch nicht unter moralischer Überforderung gelitten. Ihre christliche Herkunftsmoral ist schon vor 1933 abhanden gekommen, der Abfall von allen zehn Geboten hat ihre Moral zerstört, und zwar zuerst die der deutschen Protestanten, was eine Graphik über die Verteilung der katholischen Population 1934 und das Abstimmungsergebnis für die Nationalsozialisten 1932 beweist.

Die Deutschen und Österreicher wollten die Vernichtung der Juden, welches Haus des jüdischen Nächsten hätten sie noch begehren können, als sie bis zum bitteren Ende kämpften? Und daß die Deutschen mit harter militärischer Gewalt von sich selbst befreit wurden, ist ja wohl ein Witz!

Gefolgt wird diese Fehleinschätzung der von sich selbst befreiten Deutschen und Österreicher von den Versuchen des Götz Aly, den Antisemitismus mit der mächtigen Triebkraft des Neides und der Habgier zu erklären. Den Ausspruch des Wilhelm Marr "Wir sind diesem fremden Volksstamme nicht mehr gewachsen" reduziert er aufs Neunte und Zehnte Gebot. Es folgen allerlei Pseudobeweise für diese These, beispielsweise: Im frühen 20. Jahrhundert zahlte ein jüdischer Bürger Frankfurts durchschnittlich viermal so viel Steuern wie ein protestantischer, achtmal so viel wie ein katholischer. Damit ist nicht erklärt, warum das nicht zum Ansporn für die Christen geworden ist, ebenfalls solche Höchstleistungen zu erreichen, und das durchschnittliche (!) Steueraufkommen der Juden Berlins, zur selben Zeit, wüßte ich auch einmal gern. Eike Geisels Buch Im Scheunenviertel könnte weiterhelfen.

Vergessene Tage: "Am 5. und 6. November 1923 zog der Mob prügelnd und plündernd durch die Grenadierstraße. Zehn Jahre vor Hitlers Machtergreifung wurden Juden geschlagen, beraubt und nackt durch Berlin getrieben," beginnt Karsten Krampitz seinen Artikel über das Scheunenviertel. Reiche Juden werden beneidet? Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus?

Weiterhin wüßte ich gern, wie Götz Aly diese Behauptung belegen will: "Anders als die meisten Christen hatten sie (die Juden) in der alten, untergehenden sozialen Ordnung nichts zu verlieren." Die meisten Christen hätten von der Ordnung zu Beginn des 19. Jahrhunderts profitiert? Die meisten sind ebenfalls arm und haben nichts zu verlieren.

Götz Aly und die Überlegenheit der Juden: Liebe Gemeinde!

Und dann bringt Götz Aly ein Klischee nach dem anderen zur Überlegenheit der Juden über die Christen und zur Entstehung derer Neidantisemitismus. Er gerät geradezu ins Schwärmen: "Der Bildungswille bezog seine Kraft aus drei Quellen: aus der Religion, der Jahrhunderte langen Rechtlosigkeit und aus der Urbanität." Und wie ist das mit den Landjuden?

Die Chronik der Familien Lucas und Keller, von Eric Lucas: Jüdisches Leben auf dem Lande gibt Auskunft über die Verbindung des religiösen Lebens mit dem Berufsleben. Die acht Seiten über die 1864 geborene Tante Rosal dürften für eine Einschätzung reichen.

Nun kommt die Neidvariante der Verschlafenen, der Verlangsamten, Desorientierten, Faulen und Begriffsstutzigen. Ist Götz Aly im falschen Film, über heutige Muslime? Auch sie sollen die Gefährdeten, die wenig Selbstbewussten sein, das mache sie zu den Gefährlichen. Die gewaltsame Verbreitung des Islam wird ebenfalls solchen zugeschrieben, und das ist ebenso falsch, oder wie erklärt Götz Aly, daß im Islam wie im Nationalsozialismus erfolgreiche gebildete Menschen agieren? In den beiden totalitären Systemen sind es diese, die den Terror durchsetzen. Neid und Gier sind nicht wesentlich, sie sind Kategorien aus der Welt der Individuen. Götz Aly verwischt diese Tatsache gleich zu Anfang, in dem er die Zehn Gebote nicht an den einzelnen Menschen, sondern an die Menschen gerichtet sieht. Dann aber stünde in der Thora gewiß der Plural. Es ist auch nicht Israel gemeint, als Volk, sondern aufgerufen ist der einzelne Mensch, wie man an Exodus 20:6 sehen kann: "Der aber Gnade übet am tausendsten Gliede denen, welche mich lieben und meine Gebote halten". Auch an den Geboten zur Ehrung von Vater und Mutter sowie nicht ehebrechen, morden, stehlen sieht man, daß der einzelne Mensch gemeint ist.

Von diesen Geboten haben sich die Deutschen, jeder einzeln, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts schrittweise und dann ab Anfang der 30er Jahre zügig verabschiedet. Der Haß ist vor dem kollektiven Neid da, man könnte vielleicht sagen: Wie können solche verhaßten Menschen auch noch reich sein? Götz Aly kommt noch einmal mit dem Klischee vom beneideten Juden, der zum Vogelfreien wird. So muß es sein; denn sonst könnte er seine Predigt umschreiben.

Zum Schluß schenke ich meinen Lesern von Sidor Belarsky Dos Lidl Fun Goldenem Land. Es sind Erinnerungen eines Dichters an ein Lied, das ihm seine Mutter gesungen hat. Ihre Schönheit, ihr tröstendes Lachen, ihre Augen, die voller Liebe waren, sind ihm unvergessen. Aber er muß noch das goldene Land seiner Träume finden, nach dem Lied seiner Mutter sehnt er sich immer ...

Mathematik der Ethik. Zehn weniger neun ist null