2. April 2014

Frankreich. Demokratie und Politikverständnis in Perpignan


Der gewählte Bürgermeister Jean-Marc Pujol bricht sein Wort 48 Stunden nach der Wahl. Ein Leser des Indépendant kommentiert: Il est élu...vous êtes cocus, mais vous l'avez voulu! Er ist gewählt, Ihr seid betrogen, aber Ihr habt's so gewollt!

Update : Affaire à suivre sur Ouillade, l'info en Roussillon qui coule de source

Frankreich und die Demokratie? In Perpignan kein Thema!

In Frankreich vereinen Politiker mehrere Mandate auf sich; sie sind Minister und/oder Senatoren, Mitglieder von Regional-, Departments- oder Gemeinderäten, sie kandidieren fürs Europaparlament. Das soll anders werden in Frankreich, und es wird von einer Mehrheit der Politikerelite verkündet, daß eine Person nur ein Mandat ausüben soll. Einige sprechen sich offen dagegen aus.

Je m’aperçois que maire, c’est du plein temps.

Seit mehr als zwei Jahren ist die Forderung gegen Ämterhäufung Teil des Programms des Bürgermeisters von Perpignan Jean-Marc Pujol. Es vergeht kaum eine politische Veranstaltung, kaum ein Zeitungsinterview, in denen er nicht wiederholt, daß er nichts als Bürgermeister sein wolle. In seinen Auftritten zu den Kommunalwahlen verkündet er das ungefragt. Ich habe an drei solcher Veranstaltungen teilgenommen und es selbst gehört: Bürgermeister zu sein, das ist ein Vollzeit-Beruf. Maire, c'est du plein-temps.

Er punktet damit gegen den Front National.

Am 25. März 2014, nach dem ersten Durchgang, kommt J.-Marc Pujol auf das Duell zu sprechen, das ihn in Gegnerschaft zum FN bringt: "Das spielt sich zwischen zwei Konzeptionen der Gesellschaft ab: ein Modell gründet auf persönlicher Integrität, der öffentlichen Moral und der Abwesenheit von Ämterhäufung, wie sie meine Liste verkörpert, und andererseits einem professionellen Politiker, der schon Kandidat zu den Europawahlen, Regionalrat in Montpellier und Parlamentarischer Assistent in Europa ist [Louis Aliot].

25 mars 2014, après le 1er tour, J.-Marc Pujol évoque le duel qui l'opposera au FN : "Ça se jouera entre deux conceptions de la société : un modèle basé sur l'intégrité personnelle, la morale publique et le non cumul des mandats représenté par ma liste et un politicien professionnel, déjà candidat aux Européennes, conseiller régional à Montpellier et assistant parlementaire à l'Europe".


48 Stunden nach seiner Wahl verkündet er, am 14. April 2014 als Kandidat für die Präsidentschaft des Großraums Perpignan anzutreten. Dessen jetziger Präsident Jean-Paul Alduy, der auch sein Vorgänger im Amt des Bürgermeisters ist, und dessen Vater vor ihm, seit Ende der 50er Jahre, Perpignan verwaltet, hat die Meinungsänderung aus dem Indépendant erfahren: "Voilà un mandat qui commence très mal", kommentiert er den Schachzug. "Ein Mandat, das sehr übel beginnt."

Es hat vor den Gemeindewahlen Absprachen gegeben, auf Grund derer Jean-Paul Alduy auf eine erneute Kandidatur als Präsident des Großraumes Perpignan verzichtet und Jean-Marc Pujol Spitzenkandidat der Liste Perpignan pour tous! geworden ist. Zwei Kandidaten für die Präsidentschaft des Großraumes Perpignan, der Agglomération, sind ebenfalls in Kreisen der bürgerlichen Parteien bestimmt worden. Jean-Marc Pujol war bei diesen Sitzungen zugegen und einverstanden.

Was aber kümmert den frisch gekürten Sieger sein Wort von gestern? "Je suis pressé de toute part", erklärt er den verblüfften Parteifreunden, Anhängern und politischen Gegnern: "Ich werde von allen Seiten dazu genötigt." Das sei außerdem kein Mandat, sondern eine Funktion. Sie ist dotiert mit einem Budget von 350 bis 400 Millionen Euro.

Der Verrat ist doppelt, [zitiert Ouillade Louis Aliot, am 2. April 2014] weil [Romain] Grau, von der linken Mitte [Union des démocrates et indépendants (UDI)], ausgestattet mit einem ausgeweiteten Verantwortungsbreich, der Geselle des Bürgermeisters wird, bevor der, und das ist das große Geheimnis, zwei Jahre vor Ende seiner Amtszeit 2020 durch wunschgemäßen Rücktritt von Pujol Bürgermeister wird.

Et la trahison est double puisque le centriste de gauche Grau prend le poste de maire consort avec des délégations élargies, avant que, et c’est le grand secret de cet accord, deux ans avant l’échéance électorale de 2020, il ne deviennent maire par la démission opportune de Pujol !

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Wir haben einen Bürgermeister, der nicht seinen Überzeugungen und seinem Wort, sondern den Nötigungen anderer folgt? Das  bringt nicht nur die Linken in Wut, die im Sinne des Pacte républicain im zweiten Durchgang zähneknirschend für ihn gestimmt haben, um Adolf Hitler spät aber entschlossen entgegenzutreten, sondern alle Bürger, die an antiquierten Werten wie Worthalten und Anstand festhalten. Darunter sind diejenigen, die noch zu den Wahlen gehen, was sie sich fürs nächste Mal überlegen werden, schon allein, wenn sie sich die Diskrepanz zwischen prozentualem Stimmenanteil ihrer favorisierten Liste, ob links oder rechts, und der Anzahl der Sitze im Gemeinderat ansehen. Die sind nicht nur in Carcassonne und in Perpignan so jenseits, sondern in allen Städten und Dörfern Frankreichs. Bei einem solchen Wahlsystem bleibt man besser zu Hause.


Oder die ganz hartnäckigen unter den Wählern stimmen gleich für den Front National; der hat zumindest noch keine Gelegenheit gehabt, Korruption im großen Stil zu betreiben. Dessen Kandidat Louis Aliot muß man heuer kommen mit einer Verwaltungsuntersuchung des Innenministeriums (!), weil Denunzianten bis nach Paris melden, daß er mit befreundeten Polizisten zwischen den beiden Wahldurchgängen in deren Kommissariat CRS 58 einen Kaffee getrunken und damit die Tabu-Zone für Wahlkampfauftritte verletzt habe. Dauer seines Aufenthaltes dort? Keine zehn Minuten. Vielleicht hat er den Polizisten geraten, doch auch die eine oder andere Stimme für Jean-Marc Pujol abzugeben, weil man sonst unter den Polizisten für den Front National Ergebnisse wie bei Ostblockwahlen zu verzeichnen hätte.

Die Nachricht über den Verstoß gegen die Grundregeln des republikanischen Kodex steht gestern, am 1. April, im Indépendant. Ich gratuliere der Redaktion zum gelungenen Aprilscherz, bis ich im Internet lese, daß in anderen Medien schon vier Tage vorher darüber berichtet wird: Auf frischer Tat ertappt!

Versteht nun vielleicht jemand besser, warum gut ausgebildete jungen Menschen in Scharen Frankreich verlassen? Sie wollen mit solchen Machenschaften nichts mehr zu tun haben!