12. August 2011

Türkei im Zentrum einer neuen "Osmanischen Union"

Heute ist wieder vente forcée, Le Figaro kostet mit den Hochglanzbeilagen zur Werbung für Luxusprodukte 4,50€, die Leser müssen also noch drauflegen, wenn sie die von den Unternehmen über ganzseitige Anzeigen reichlich finanzierten Artikel lesen wollen. Aber auch im Hauptteil der Zeitung findet man an vente-forcée-Tagen das Beste, was Le Figaro zu bieten hat: hin&wieder Georges Malbrunot, heute Laure Marchand. Da lohnt es sich, in meinem Stammcafé von der Seite 2 die wichtigsten Aussagen abzukupfern, denn jeder weiß, daß Artikel von dort es niemals ins kostenlose Internet schaffen. Laure Marchand, Korrepondentin in Istanbul, schreibt über La Turquie, au coeur d'une nouvelle "Union ottomane". Auslöser ist ihr Bummel in der Fußgängerzone der Istiklal Caddesi, der Unabhängigkeitsstraße, wo sie in ihrer bevorzugten Buchhandlung "Le Monde en livres" vergeblich nach dem neuesten Bestseller Lettres turques eines von einem niederländischen Verlag herausgegebenen französischen Schriftstellers sucht. Name des Schriftstellers: ? Name des Verlages: ?

250 000 Exemplare seien von dem inzwischen an beiden Ufern des Bosporus vergriffenen Buch in der Türkei verkauft worden, und zig Tausend Internauten hätten es heruntergeladen. Im Internet ist es nicht aufzufinden, auch nicht unter Türkçe Mektuplar. Wie es Käufer findet und aus dem Internet heruntergeladen werden kann, wüßte ich gern. Handelt es sich um eine weitere der berühmten türkischen Märchenerzählungen? Ist Laure Marchand gar selbst unter sie abgetaucht wie der französische Schriftsteller zu den Holländern? Ein futuristisch über die Türkei und eine "osmanische Union" handelnder Band eines niederländischen Verlages ist jedenfalls nirgends aufzufinden.
 Beim Googlen nach Lettres turques staunt man über die vielen Briefe, die über die Jahrhunderte geschrieben worden sind, von Reisenden, von denen kaum ein Deutscher je gelesen hat, es sei denn, er befasse sich wissenschaftlich mit dem osmanischen Reich. Der Verlag Actes Sud gibt eine Reihe Lettres turques heraus. Nichts mehr zu finden von "lettres turques" auf deren Website.

Über eine Buchhandlung "Le Monde en livres" findet man ebenfalls nichts im Internet. Es gibt ein EFY Kitabevi für italienische, französische und spanische Bücher, mit einer Zweigstelle unter dem prosaischen Namen Librairie française EFY (EFY Fransiz Kitabevi) am Eingang des französischen Konsulats, in Nr. 8, am Taksim, ein Istiklal Kitabevi, in Nr. 55, ein Denizler Kitabevi, in Nr. 199/A [nicht mehr], ein Robinson Crusoe Kitabevi für englischsprachige Literatur, in Nr. 389, ein Dünya Kitabevi, in Nr. 469, ein Türk Alman Kitabevi, in Nr. 481, das kenne ich schon in den 60er Jahren, und dünya = Welt [heuer nix mehr mit Welt]. Es ist die Art der französischen Journalisten, Spuren zu verwischen, die Leser könnten auf die Idee kommen, nachzusehen, ob's stimmt, was erzählt wird.

Da das angeblich von einem niederländischen Verlag herausgegebene Buch eines anonymen französischen Schriftstellers in einer nicht existierenden Buchhandlung sowie im Internet nicht aufzufinden ist, muß man sich mit dem ganzseitigen Artikel und dem dort dokumentierten abstrusen Inhalt des Buches begnügen. Auf Bebilderung und Textkasten komme ich später.

Unter der bescheidenen Rubrik Prospective, Zukunftsforschung, Serie 4/19 liest man Erstaunliches, aber zunächst, was man nicht liest: Kein einziges Mal kommt der Islam vor, geschweige denn Sunniten und Schiiten. Die nahezu islamfreie Welt der Karagöz und Hajivat wäre dagegen ein Moscheebetrieb an einem Freitag des Ramadan.

Der imaginäre Schriftsteller imaginiert eine Zukunft der Türkei in zwanzig Jahren. So lautet auch der Serientitel des Figaro: Le monde dans 20 ans. Allerdings ist der Autor wenig vertraut mit der Geschichte des Nahen Ostens, der israelisch-palästinensische Konflikt sei knapp 30 Jahre nach dem Scheitern der Oslo-Verträge endlich beigelegt. Das wäre im Jahr 2023, also ziemlich genau zwölf Jahre vom heutigen Tag an. Aber was sind im Morgenland Zeit und Raum!

Vorgestellt wird ein umgekehrtes Szenarium von Türken, die genug haben von den fruchtlosen Beitrittsverhandlungen mit Brüssel. "Ankara vertauscht die Rollen und schlägt seinen Nachbarn eine politische und wirtschaftliche Einheit nach europäischem Muster vor." Das ist für die von der EU düpierten Türken die einzige Möglichkeit, haben sie doch laut Aussage des Schriftstellers inzwischen alle demokratischen Reformen durchgeführt, die seinerzeit von der EU gefordert worden sind: Elle a fini par effectuer toutes les réformes démocratiques réclamées alors par la Commission européenne. Eine bizarre Behauptung nach den Tatsachen, die jetzt die türkische Politik bestimmen, es sei denn, man halte die Abschaffung des laizistischen Führungsstabes der türkischen Armee zugunsten von islamisierten Generälen für eine demokratische Entwicklung. Der nächste Coup ist die Aufwertung der Kurden, der sogenannten Bergtürken, sie hätten inzwischen, also nach 20 Jahren von heute, einen autonomen Status wie die Katalanen Spaniens.

PriceWaterhouseCoopers (PwC) habe bereits 2011 vorausgesagt, daß die Türkei eine "gefestigte Regionalmacht" werde. In 20 Jahren sei das Bruttoinlandsprodukt der Türkei größer als das Kanadas. Das sagt PwC tatsächlich voraus: In the latest in the series of PwC’s ‘World in 2050’ reports, analysis reveals that the E7 emerging economies (China, India, Brazil, Russia, Mexico, Indonesia and Turkey) are set to overtake the G7 economies (US, Japan, Germany, UK, France, Italy and Canada) before 2020. Der Bericht stammt vom März des Jahres 2006, er ist im März 2008 letztmalig aktualisiert worden, schreibt PwC [nicht mehr online]. Von 2011 der Laure Marchand ist dort nichts zu lesen.

Die Autoren des Berichtes John Hawksworth und Gordon Cookson legen allerdings mehr Gewicht auf China und Indien. Als Neuzugänge bis 2050 sehen sie Vietnam, Nigeria, die Philippinen, Ägypten und Bangladesh unter den Top 10. 2050 habe die türkische Wirtschaft die Größe derjenigen Italiens erreicht. Kommt man zum Abschnitt über die hauptsächlichen Unsicherheiten und Tests über Erfolgsaussichten, so räumen die Autoren große Unsicherheiten ein. Wachstumsfreundliche politische, wirtschaftliche und institutionelle Bedingungen werden als Annahmen vorausgesetzt. Dem Text ist zu entnehmen, daß die Forschungsergebnisse vor Ausbruch des "arabischen Frühlings" und der "Demokratiebewegung" erzielt worden sind. Vorsorglich nennen sie in den Ankündigungen das Datum der Herausgabe des Berichtes nicht; es würde ihn zum Ladenhüter degradieren. Außer der Vorhersage, daß im Jahr 2050 China, die USA und Indien die Hauptwirtschaftsmächte sein werden, wozu man nur Zeitung zu lesen braucht, kann man den Rest der Studie nach den Ereignissen 2011 innner Pfeife roochen, wie der Berliner sagt. Die beiden Autoren tragen daran keine Schuld, außer daß sie vielleicht so dezent sein könnten, die Ergebnisse für obsolet zu erklären.

Das soll aber Laure Marchand nicht hindern, ihren Anonymus PwC-Ergebnisse zitieren zu lassen. Als nächste Referenz bietet sie die durch ihre serbenfeindliche Rolle auf dem Balkan bekannte International Crisis Group (ICG) des George Soros und ihren Projektdirektor für Türkei/Zypern Hugh Pope, mit Sitz in Istanbul. Der gewinnt im Figaro Glaubwürdigkeit, weil er schon für die israelfeindlichen Independent und ar-Reuters tätig gewesen ist. Er ist auch Experte für Turkish Islam. Man wünscht ihm, Recep Tayyip Erdogan möge das nicht hören. The Term “Moderate Islam” Is Ugly And Offensive; There Is No Moderate Islam; Islam Is Islam, kolportiert die türkische Zeitung Milliyet, am 21. August 2007. Entsprechend gibt es auch keinen türkischen Islam. Die Einschätzungen des Projektleiters sollte man relativieren.

Die ICG, finanziert vom Open Society Institute, dessen Gründer George Soros im Aufsichtsrat der ICG wirkt, beschäftigt Israelfeinde wie Robert Malley, einen Berater der Präsidenten Bill Clinton und Barack Obama für den Nahost-Konflikt. Robert Malley ist zuständig für die Analysten der ICG in Amman, Kairo, Beirut, Tel Aviv, und Baghdad.

"Die Türkei im Zentrum einer neuen osmanischen Vereinigung"

Aus diesem Dunstkreis stammen die Informanten des Anonymus, dessen Buch in 250 000 Exemplaren verkauft und zig Tausend Mal im Internet heruntergeladen worden sei. Die Türken werden als die Deutschen der Region vorgestellt, und so sind sie denn auch, nachdem ihre Reserven des Spurenelementes Bor, des "schwarzen Goldes des 21. Jahrhunderts" ausgebeutet sind, in 20 Jahren Meister der Wind- und Sonnenenergie. Diese Gewißheit dokumentiert Le Figaro mit einer 12 Zentimeter hohen, 28 Zentimeter breiten Zeichnung der Illustratorin Florence Gendre, im oberen Drittel der Seite. Man sieht drei Istanbuler Moscheen, keine Kirche, keine Synagoge, drei winzige Häuschen, zwei Gebäude mittlerer Größe und zwölf alles überragende Windräder, etwa doppelt so hoch wie die Moscheen. Mit der Türkei scheint sie nichts zu tun zu haben, auf ihrer Website sieht man viele Blumen und Designer-Turnschuhe. Ob diese Zeichnerin ahnt, was sie produziert? Den Verantwortlichen des Figaro kann man jedenfalls unterstellen, daß sie über Größenverhältnisse im Islam Bescheid wissen.

Wind- und Sonnenenergie seien ein gutes Geschäft für Alphan Manas, und da setzt die Autorin voraus, daß man den kennt. Es grünt so grün! Wind- und Solarenergie, Aufkauf des französischen Autoausstatters Heuliez, das Kleinauto "Cookie", fährt mit gespeicherter Sonnenenergie, Kleinstauto für die Kleinstfamilie, Vater, Mutter, einziges Kind, Autos montiert in Syrien, im Libanon, in Ägypten, eine echte "Union ottomane", eine osmanische Union.

Le bouleversement politique qui, en 2011, était en train de redesigner la région allait non seulement donner un coup d'accélérateur supplémentaire à son entreprise florissante mais aussi voir ses prophéties se concrétiser. Die politischen Erschütterungen von 2011, waren nicht nur dabei, die Region neu zu strukturieren, und seinem florierenden Unternehmen einen zusätzlichen Anstoß zur Beschleunigung zu geben, sondern sie sahen auch seine Prophezeihungen sich konkretisieren, meint der anonyme Autor des Bestsellers. Es würden Verträge von Istanbul unterzeichnet. Wo? Im Dolmabahçe Palast, der Residenz der letzten türkischen Sultane. Jeder Türke aber weiß, daß es sich zuletzt um die Residenz des Mustafa Kemal Atatürk handelt, des Vaters der Türken. Während seiner Krankheit hat er die meiste Zeit dort verbracht und ist in diesem Palast, am 10. November 1938, um 9:05 Uhr, verstorben. Alle Glocken im Palast sind angehalten worden. Der Palast ist heute Museum, das die Türken mit großer Ehrfurcht betreten.

30 Jahre nach den gescheiterten Verträgen von Oslo ist der israelisch-palästinensische Konflikt endlich gelöst, enfin résolu, verhandelt von den Türken, die aus den Fehlern der EU gelernt haben. Türken schlagen den ehemaligen Staaten des osmanischen Reiches ein politisches Projekt vor, eine nur wenig einengende Föderation, pas contraignante, die dem Vorbild der EU ähnelt.

Unter der Überschrift "Hafen des Friedens" wird Cengiz Aktar, der ehemalige Experte für die EU nun Berater der beitrittswilligen Staaten zur Föderation. Alle sind begeistert, auch die Balkanstaaten, sogar Bulgarien und Griechenland, die aus der EU aus- und in die Föderation übertreten. Leider ist der seit dem 14. Oktober 2005 tätige Kolumnist der Hürriyet bereits am 24. Juni 2011 rausgeflogen, er hat wohl nicht rechtzeitig Blick und Gebet nach Mekka gerichtet.

Recep Tayyip Erdogan bedarf keiner Europaspezialisten mehr; denn die Zukunft gehört dem Demokratiesierungsprozeß im föderationskompatiblen arabischen Raum, in dem es in den nächsten Jahren auch zwei libysche Staaten geben wird, die sich ähnlich den mitteleuropäischen Staaten erst demokratisieren und dann dem Bündnis anschließen.

Vier Hauptstädte der Föderation werde es geben, meint Anonymus, Sarajevo, Istanbul, Alexandria und Jerusalem à deux visages, l'un israélien, l'autre palestinien, Jerusalem mit zwei Gesichtern, eines israelisch, das andere palästinensisch.

Für dieses Gebilde wird jetzt ein passender Name gesucht. Vielleicht, schlägt Cengiz Aktar vor, "Union ottomane", oder besser "Union MOttomane", MO für Moyen-Orient?

Eingebettet in den Artikel von Laure Marchand gibt's einen 12,5 Zentimeter breiten, 8 Zentimeter hohen blauen Plan mit der Türkei im Zentrum, ein nord-südlich verlaufender gelber Balken trennt Europa von Asien. Ein weiterer Kasten, sechs Zentimeter breit, neun Zentimeter hoch, mit der Überschrift DES AMBITIONS RÉGIONALES, vervollständigt das Ensemble. Drei Punkte werden im Kasten aufgelistet:

  • Die seit dem 3. Oktober 2005 mit der EU geführten Beitrittsverhandlungen sind gescheitert (Es ist unser Nationalfeiertag und der Muslime Tag der offenen Tür, an dem sie begonnen haben). Frankreich ist neben anderen Staaten gegen den Beitritt.
  • Zum Ausgleich für das Scheitern versucht die Türkei ihren Einfluß in der Region auszudehnen.
  • Ahmet Davutoglu, dem Architekten dieser grundsätzlichen strategischen Erneuerung durch eine Politik des "Zero problème" mit den Nachbarn der ehemaligen Märkte des Reiches, haben ihm das Etikett des "Neo-Osmanen" eingebracht.

Danke, Laure Marchand, ich habe es begriffen, daß dies eine Satire ist, daß Lettres turques eines französischen Schriftstellers nicht existieren. Im Angesicht der Tatsache, daß kein Araber es jemals vergißt, wie die Osmanen seine Brüder seit Beginn des 16. Jahrhunderts gedemütigt und mißhandelt haben, wie sie deren Entwicklung nicht nur gehindert, sondern auch Ausbeutung großen Stils betrieben und die Bevölkerung in Unwissenheit gehalten haben. Möge man sich nicht beirren lassen von Beschönigungen auf heutigen sunnitischen Muslim-Websites. Es ist so ähnlich wie mit der Arroganz der Perser gegenüber den Arabern. Die Perser schauen obendrein noch auf die Türken hinab. Die Vergangenheit Palästinas betreffend, wie die Osmanen das Land haben verkommen lassen, genügt die Lektüre von Jakob Philipp Fallmerayer: Die heiligen Örtlichkeiten in Jerusalem und Mark Twain: The Innocents Abroad.

Was demnächst für die Türkei ansteht, habe ich im letzten Absatz des Artikels Syrien. Warum in den Ferni schweifen? angedeutet. Die vereinigten sunnitischen Staaten mit Saudi-Arabien als Anführer werden alles tun, den Einfluß der Türkei in der Region zurückzudrängen, nachdem sie unter Versprechungen, die sie nie zu halten gedenken, die erstklassigen Militärs die Dreckarbeit in Syrien haben machen lassen, um die Macht des schiitischen Iran und der Hezbollah in die Schranken zu weisen. Die Koofmichs von der Hamas, angeblich eine Zweigstelle der Muslimbruderschaft, werden nebenbei miterledigt.

Die ehemaligen Sowjetrepubliken widersetzen sich schon lange der Re-Osmanisierung, die mit deutscher Hilfe seit Anfang der 90er Jahre versucht wird, die Balkanstaaten möchten auch lieber in die EU statt wieder unter osmanische Führung, die Palästinenser in Gaza und Westjordanland lieben ihre Landsleute in Jordanien mehr. Türken jedenfalls lieben sie alle nicht.

Die "Osmanische Union" wird bestehen aus dem Präsidenten Abdullah Gül, dem Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und dem erfolgreichen Außenminister Ahmet Davutoglu.