5. August 2019

Herford. Freude meiner Jugend

Ich heiße Gudrun, nach der Tochter des RFSS Heinrich Himmler. Oma und Opa Aschoff wohnen mit Tante Emmi in der Hämelingerstr. 6, in einem "Lumpenbau", wie Opa die Wohnung dem Hausbesitzer Carl Titgemeyer gegenüber im Winter 1939/40 bezeichnet. Aber da bin ich noch nicht auf der Welt, ich werde im Mai 1942 im Lebensbornheim "Harz" , in Wernigerode [Foto: Brockenweg 1], geboren. Das ist ein Entbindungsheim der SS. Wieso ich dort geboren bin und dann noch ins Heim "Hochland", ein weiteres Lebensbornheim der SS, verschoben werde, ist eine andere Geschichte, die ich erst seit November 2011 kenne und aufarbeite. Meine Mutter gibt mich jedenfalls, da bin ich noch kein Jahr alt, bei ihren Eltern ab und verschwindet wieder Richtung München, wo sie in der Zentrale des Lebensborn e.V. angestellt ist. Ihr Vorgesetzter ist SS-Standartenführer Max Sollmann.

Offiziell ist sie ab November 1943  wieder in Herford und wohnt ebenfalls in der Hämelingerstraße 6. Das weiß ich aus den Herforder Meldekarten, von denen mir der Herforder Stadtarchivar Christoph Laue dankenswerterweise Kopien überlassen hat.

Tatsächlich arbeitet sie noch bis zum Frühjahr 1944 beim Verein und kommt dann erst nach Herford.

Im November 1944 wird die Hämelingerstr. 6 durch Bomben beschädigt. Meine Großeltern bleiben dort, meine Mutter und ich kommen beim Bauern Westerhold unter, Auf dem Dudel, wo eine zänkische alte Frau herumkommandiert. Mutti und ich dürfen als zwangseinquartierte Obdachlose nicht den Haupteingang ins Haus benutzen, sondern müssen durch den Pferdestall gehen, ganz dicht an den Pferden entlang. Seit der Zeit habe ich Angst vor Pferden. Ich erinnere mich an Schneeglöckchen, meine ersten Blumen, im Vorgarten des Bauernhauses. Schneeglöckchen sind in allen folgenden Vorfrühlingen immer kleiner als die aus meiner Erinnerung, vom Februar oder März 1945. Ich erinnere mich an einen nächtlichen Bombenangriff. Meine Mutter reißt mich aus dem Bett und rennt mit mir los. Am Himmel sieht man gleißendes Licht in der Form von weißen Tannenbäumen. Das ist im März 1945, wie ich später von meinen Großeltern erfahre.

Dies zu meinem Leben vorm Einzug in das Fachwerkhaus der Tribenstr. 20. Außer den wenigen Ereignissen beim Bauern Westerhold ist mir bis zum Kriegsende nichts in Erinnerung. An den Kindergarten der Neustädter Kirchengemeinde und seine Leiterin Tante Marie habe ich ebenfalls noch einige Erinnerung, daß es mir da gut gefallen hat, und wie der feuchte Sand im Sandkasten riecht.

Tribenstraße 20


Im April 1946 ziehen wir gemeinsam mit Oma, Opa und Tante Emmi in die Tribenstr. 20. Meinen Vater kenne ich nicht. Er ist im Krieg und anschließend in Gefangenschaft, erzählt man mir. Zu der Zeit, als wir in die Tribenstr. 20 ziehen, kommt er zurück aus der Kriegsgefangenschaft. Er wohnt aber nicht bei uns, sondern woanders. Mutti und ich besuchen ihn manchmal. Dann erzählt er, wie er beim Tommie die Klos hat putzen müssen. Zum Beweis dafür, daß das eine Ungeheuerlichkeit ist, zeigt er kleine schwarz-weiße Fotos, auf denen er in verschiedenen Uniformen zu sehen ist, mit weißen oder dunklen Uniformjacken. Er sieht sehr stattlich aus, er haßt die Engländer und warnt mich vor ihnen: "Nimm niemals etwas von ihnen an!"

Im August 1946 holen meine Eltern die Hochzeit nach, die 1941 nicht hätte richtig gefeiert werden können, weil mein Vater zur Kriegshochzeit nur eben aus Paris Urlaub bekommen hätte. Dort ist er bis August 1944 in der deutschen Kriegsmarineverwaltung tätig. Ich trage das mit blauen Fäden gesmokte gelbe Kleid aus Taffet, geschneidert von Tante Erika Schulze, aus Stoff, garantiert Vorkriegsware. Zur Hochzeit kommen Familienmitglieder meines Vaters aus Ostfriesland und Hamburg, Tante Anita, Tante Lisa, Onkel Karl, und alle freuen sich darüber, wie groß ich schon geworden bin.

Nun habe auch ich einen Vater. Ich soll ihn Vati nennen.

Im Winter 1946 oder 1947 ist es draußen dunkel, ich sitze im Wohnzimmer meiner Großeltern, als es an die Fensterscheibe klopft. Ich ziehe die Gardine zurück, und ein fürchterlicher Anblick bietet sich mir. Da steht ein verdreckter in Lumpen gekleideter aufgedunsener Mann. Er schaut mich mit großen schwarzen Augen an und ruft: "Mach auf!" Ich laufe schreiend zu Oma, die geht zum Fenster und schreit auch, aber anders, nämlich vor Freude: "Es ist Max!" Mein Onkel ist aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt. Im Zimmer angekommen, bricht er vor Erschöpfung zusammen und weint.

Oma, Opa und Tante Emmi mit Spitz Pimpon alias Pimpim

Das Leben in der Tribenstr. 20 [Foto] ist vom Wohnaspekt her der absolute Horror. Wir wohnen in Höhlen, Oma und Opa unten, Tante Emmi, meine Eltern und ich oben. Darüber gibt es noch einen Boden, und unten ist ein Vorratskeller für Kartoffeln, Äpfel und Eingemachtes. Als wir einziehen, bin ich keine vier Jahre alt. Elf Jahre bin ich, als wir im August 1953 in die Brucknerstr. 16 ziehen, auf den Stiftberg, und so habe ich während der sieben Jahre, die ich dort lebe, keine Vorstellungen von der Winzigkeit des Hauses in der Tribenstraße. Heute kann ich die Maße rekonstruieren, ausgehend davon, daß ein Bett 1,90-2,00 Meter lang ist.

Wenn man zur Haustür hereinkommt, ist rechts eine braune Flurgarderobe mit Spiegel. Links geht es, eine Stufe absteigend, von einem mit rotgrauen Backsteinen belegten Flur ins Wohnzimmer, zwei Schritte den Flur entlang, kommt man in die offene Küche. Von der Küche mit Herd, Tisch und Schrank sowie dem großen Waschbecken aus Steingut mit dem kupfernen Wasserhahn, der einzigen Wasserstelle im Hause, führt links eine Schiebetür ins Schlafzimmer meiner Großeltern.

Im Flur kommt man, rechts, über der Flurgarderobe, auf einer Holztreppe mit knarrenden, ausgetretenen Stufen ins Obergeschoß. Von dem kleinen Flur dort geht rechts das Zimmer ab, in dem meine Tante Emmi wohnt. 1946 ist sie 18 Jahre alt. Gegenüber dem Treppenaufgang ist die Tür zur Wohnküche, die knapp 3 x 3 Meter groß ist. In der Wohnküche ein Kohleherd, ein Küchentisch, Küchenschrank, drei Stühle und das zweite Nachtkonsölchen, das im Schlafzimmer keinen Platz hat. Das Schlafzimmer ist höchstens 3 x 2,5 Meter groß, und wie die Wohnküche nicht höher als 1,80 Meter. Dort stehen die Betten nicht nebeneinander, sondern im rechten Winkel zueinander, das eine vor dem anderen, eines an der Wand mit dem Fensterchen, vor dem ein dunkelgrünes Schnapprollo hängt. Es ist noch aus Kriegszeiten, für die Verdunkelung bei Fliegerangriffen der Alliierten. Ich muß, bis ich elf Jahre alt bin, mit Mutti in einem Bett schlafen. Gegenüber diesem Bett steht der Kleiderschrank, Bett, Schrank und Nachtkonsölchen, alles garantiert Vorkriegsware aus Makoré, Afrikanisch Birnbaum, organisiert von Mutti zu Anfang des Krieges, als es noch etwas zu kaufen gibt. Sie hat es bei der Spedition Vehmeyer eingelagert. Es sieht aus wie die Einrichtung eines Eheschlafzimmers, würde ich heute sagen, aber das kann ich seinerzeit nicht einschätzen.

In Flur und Wohnung des ersten Stockwerks knarren die Holzdielen. Waschen muß ich mich an einem Waschtisch auf dem Flur, und vorm Schlafengehen aufs Klo, übern Hof. Nachts aufn Eimer, aber möglichst nicht: "Geh vorher!" sagt Mutti streng. Im Erdgeschoß kommt man auf den ebenfalls mit Backsteinen gepflasterten Hof mit einem Schuppen, in dem Oma zu Weihnachten eine Gans mästet. Manchmal werden darin auch Kaninchen gefüttert. Ansonsten liegen da Kohlen und Holz zum Feuern. Neben dem Schuppen ist ein offener Verschlag mit verzinkten Mülleimern von Streuber&Lohmann, SULO [das Foto ist nur ähnlich!]. Der Weg zum Schuppen ist überdacht, und so ist dort auch, vor Regen sicher, der hölzerne Bollerwagen und sonst allerlei untergestellt.

Auf dem Hof steht ein alter Birnbaum, er trägt kleine Früchte, die nie weich werden. Manchmal laufe ich um den Baum herum und überlege, wie schnell ich laufen müßte, um mich am eigenen Rücken abzuklatschen.  Viel schneller, als ich jemals werde laufen können, meine ich und gebe es auf.

Hinten, neben dem Schuppen und dem Verschlag, führt eine eiserne Treppe hinunter in die Waschküche, hinter der sich noch ein kleiner Abstellraum zur Vorratshaltung befindet. In der Mitte der sommers wie winters feuchten Waschküche steht eine hölzerne Miele-Waschmaschine mit Handbetrieb, ein Herd ist in der Ecke, darauf wird die Wäsche mit dem Waschpulver, "Persil bleibt Persil", in einem Kessel aus Aluminium gekocht. Dann wird es in die Maschine geschüttet, der Deckel verschlossen, und das Schaukeln der Wäsche mit dem Schwengel geht los.

Wenn ich Oma helfe beim Schaukeln und dazu an den Schwengel packe, fliege ich hin und her, und wir lachen beide: "Nur Miele, Miele, sagte Tante, die alle Waschmaschinen kannte!"

Auf dem Hof befindet sich das Plumpsklo mit Wasserspülung. Als Toilettenpapier dient die Freie Presse von Oma und Opa oder das von Vati und Mutti abonnierte Herforder Kreisblatt, genannt Käseblatt. Am Ende des Hofes ist eine große Tür, die zur Schmiede der Firma Oskar Hentschel führt.


Dort brennen Feuer, und auf dem Amboß werden schmiedeeiserne Gitter hergestellt. Ich darf auf keinen Fall dort hinein, das haben mir Mutti und Oma verboten, aber Herr Waling schaut nicht hin, wenn ich die Abkürzung zur Mittelstraße nehme, um bei Bäcker Kleine Brot zu holen. An dem knabbere ich manchmal auf dem Weg nach Hause, am Knüstchen. Oma findet das nicht in Ordnung, aber sie sagt nichts, sondern schaut mich nur vorwurfsvoll aus ihren großen braunen Augen an.

In der Schmiede riecht es merkwürdig, ich kann es nicht beschreiben, anders jedenfalls als sonstwo auf der Welt. Wahrscheinlich kommt es von dem Karbid, das in der Mittelstraße in einer in den Boden gesenkten Wanne weißlich und matschig offen gegenüber der Schmiede lagert und zum Schweißen gebraucht wird. Tritt da ja nie hinein, warnt Oma mich, sonst fällt dein Fuß ab, verstanden? Verstanden!

Opa lacht: Ein Mann hat Karbid gefressen, Wasser gesoffen, und dann isser geplatzt!

Die Arbeiter gehen zur Pause über den Hof in unser Nachbarhaus, dort befindet sich der Gefolgschaftsraum. Die Arbeiter sind die Gefolgschaft ihres Arbeitgebers, sie müssen folgen, so wie ich Oma und meinen Eltern.

Im Nachbarhaus wohnt die Familie Steinmann, Vater, Mutter, Liselotte, genannt Löttken, und Günter. Die Nachbarn auf der anderen Seite unseres Hauses sind zwei unverheiratete Schwestern mittleren Alters, (Riepe?). Sie sind zu mir immer sehr freundlich. Dann folgt ein weiteres Fachwerkhaus, in dem mein Spielkamerad Peter Meier wohnt. Im Haus an der Ecke Bügelstraße sitzt eine dicke Frau mit weißblondem Haarknoten an der Heißmangel. Gegenüber, neben der Wirtschaft Twachtmann ist eine Schneiderei von Vater und Sohn, einer hat weiße der andere schwarze Haare. Sie sitzen im Schneidersitz auf dem Tisch und nähen Anzüge. Wo die Bügelstraße in die Tribenstraße mündet, ist das Milchgeschäft Heinzelmann. Da muß ich mit einer blechernen Milchkanne täglich Milch holen. Die Kanne hat einen Holzgriff, an dem ich die Kanne manchmal herumschwenke. Die Milch bleibt aus unerfindlichen Gründen in der Kanne, aber man muß achtgeben, daß man schnell genug dreht, und daß der Henkel nicht abreißt. Wenn das passiert, geht man am besten nicht mehr nach Hause.

Neben dem Milchladen ist ein schmaler Gemüsegarten, und dann kommt Schlachter Berger, dessen Sohn Kalle älter ist als ich und viel stärker. Der rauft mit kleineren und schwächeren Gegnern, an größere, wie Rolf Kleine, traut er sich nicht. Rolf hat nämlich zusätzlich einen älteren Bruder Heinrich, der ist schon Lehrling in der Bäckerei. Gegen den hat Kalle keine Chance. Mir reißt er einmal ein Büschel Haare vom Kopf, daß ich blute wie ein Schwein. Oma schlägt die Hände überm Kopf zusammen: "Laß das ja nicht deine Mutter sehen! Komm, wir waschen das aus, und hör auf zu weinen!" Ich komme unter den Wasserhahn, in das Waschbecken aus Steingut. Als ich einigermaßen sauber bin, drückt sie mich an sich und murmelt: "Ach Pummel, ach Pummel!"

Pummel heiße ich bei ihr, obgleich ein Strich in der Landschaft, weil ich aus dem Lebensbornheim "Hochland" als wohlgenährtes Kind nach Herford gekommen bin, als Pummel.

Neben dem Schlachter führt ein schmaler Weg zum Gehrenberg. An der Ecke wohnt Familie Lenger. Frau Lenger, eine kleine alte Frau mit zu einem Knoten gebundenem grauen Haar, hält Hühner, und Mutti kauft von ihr manchmal Eier. Hinter dem Haus von Lenger ist ein aus roten Backsteinen errichtetes städtisches Gebäude. Im Nebeneingang des Hauses, rechts, befindet sich der Kindergarten, in den ich morgens gehe. Die Leiterin ist Tante Berta, wie meine geliebte Tante Marie aus dem Kindergarten, hinter der Neustädter Kirche, ist auch sie eine Diakonisse. Tante Berta ist überhaupt nicht herzlich, sondern herrisch. Jeden Mittag singen wir dort:

Zwölf Uhr hat's geschlagen, die Spielzeit ist aus,
da gehen wir alle ganz fröhlich nach Haus.
Der Vater, die Mutter, die warten auf mich,
und war ich schön artig, dann freuen sie sich.

Nach Ende des Kindergartens wartet Vati nicht auf mich, er arbeitet als Angestellter bei seinem alten PG Hänschen Beuermann, bei Wendt Groll, in der Radewig, Mutti wartet ebenfalls nicht, sie ist Buchhalterin im Eisenwarenladen Schrader&Matthes, in der Lübberstraße. Auf mich wartet meine Oma, die überhaupt immer für mich da ist. Manchmal hole ich Mutti von der Arbeit ab, dann komme ich über einen Arm der Bowerre. Dort, mitten über dem Bach, lebt in einem schmutzigen Fachwerkhaus, ein Schuster. An seinem von Dreck blinden Fenster steht "Schuhreparaturen Fehlen". Das verstehe ich nicht; denn hinterm Fenster sehe ich einige Schuhpaare, und der Schuster ist immer beschäftigt. Als ich Mutti frage, antwortet sie: "Hast du nicht das große 'F' gesehen? Achte demnächst genauer auf alles, dem fehlt nichts, Fehlen ist sein Name, und spinne nicht immer herum!"

Einschulung in die Volksschule Wilhelmsplatz, Ostern 1948

Ich heiße Gudrun Traumann. Ostern 1948 komme ich in die Volksschule Wilhelmsplatz, zum Lehrer Arthur Scholz, und dazu besorgt Mutti für mich eine Schultüte [Foto], in die sie drei selbst gebackene harte Haferflockenplätzchen tut. Ich mag eh keine süßen Plätzchen, und so geht die Schultüte samt Plätzchen am Nachmittag an meine Kusine Ulla Aschoff, die im Kirschengarten 5 wohnt und in der Schule Falckstraße eingeschult wird.

Ob Ulla Freude an den steinähnlichen Backwaren in der Tüte hat?

Ulla, Siegfried und ich, vorm Haus, Tribenstraße 20

Überhaupt, Ostern! Jedes Jahr bemalt meine Oma für mich Ostereier und versteckt sie in kleinen Nestern, immer an den selben Stellen. Schokoladeneier versteckt sie nicht, weil sie weiß, daß ich keine mag. Die hebt sie für Ulla und Siegfried auf, wenn sie die Familie Aschoff im Kirschengarten 5 besucht, oder wenn die beiden zu uns in die Tribenstraße 20 kommen.

Oma ist aufgeregter über die Eierverstecke als ich, weiß ich doch beim zweiten Mal, wo die Eier liegen: Unter der Holztreppe zum oberen Stockwerk, hinter der Flurgarderobe, unter dem Waschbecken in der Küche, auf dem Hof, hinterm Bollerwagen. Ich suche, aber ich finde die Eier nicht, laufe an ihnen vorbei. Oma freut sich, als ich die Nester endlich finde, und Mutti meint, daß ich ja mehrmals an ihnen vorbei gebaselt wäre: "Du findest eben nichts, du träumst nur den ganzen Tag!"

Fast die ganze Tribenstraße, vom Alten Markt bis zur Johannisstraße, besteht aus Fachwerkhäusern. Wo die Mittelstraße auf die Tribenstraße stößt, ist ein Zaun, hinter dem sich Trümmer eines ausgebombten Hauses befinden. Jeden Samstag müssen die Hausbewohner die Kopfsteinpflaster bis zur Mitte der Straße und die Gosse vor ihrem Haus fegen und wischen. Mit der Arbeit werde manchmal ich betraut. Dann stehe ich vor der Gosse und sinniere, wie man da wohl hineingeraten kann, habe ich doch gehört, daß Heide Clapier mal in der Gosse landen werde. Heide ist die Tochter vom Fischhändler, in der Rennstraße, neben dem Tapetengeschäft von Walter Fouquet. Heide ist einige Jahre älter als ich und eine sehr liebenswerte Person, die sich oft um mich kümmert.

Auf der anderen Straßenseite wohnt, neben Lenger, im oberen Stockwerk die Familie Storck. Sie hat einen Foxterrier. In das Haus daneben zieht eines Tages, ebenfalls ins obere Stockwerk, die Familie Wach ein, der Familienvater ist Musiker in der Nordwestdeutschen Philharmonie, die Tochter heißt Sieglinde, die von ihrer Mutter genähte Spitzenunterhöschen trägt. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus. In der Straße nennen wir sie "Buxenknirps". Sie spielt nur mit Mädchen, so daß ich in der Bande unserer Straße das einzige Mädchen bleibe. Ein Glück!

Von ihrer Mutter wird Sieglinde liebevoll Püppi gerufen. Mutti findet das albern, schon allein, weil sie böse ist, daß Oma mich "Pummel" nennen darf, sie aber mich nicht "Putti". Welch ein widerlicher Kosename, der zu mir gar nicht paßt! "Aber Pummel, was?" Meine Oma könnte mich nennen, wie sie wollte, es wäre immer ein schöner Name.

Eines Tages gibt's bei Wach eine Szene. Sieglinde kommt nach Hause und ruft von unten: "Mama!" Die Mutter säuselt: "Süße!" Und dann setzt es in der Wohnung Schläge und Weinen. Seit der Zeit heißt Sieglinde bei meinen Eltern "Mama-Süße-patsch!"

Ich spiele mit Jungen, und mit meinem Freund Ernemann machen wir eines Tages Zirkus. Ernemann alias Ernst Witte tanzt auf dem Seil, und ich bin die "aufrecht stehende Schildkröte". Eintritt 10 Pfennig! Darüber kann man im Geblöke vom Schaf lesen, über Kindheitserlebnisse in Herford.

Auf unserer Straßenseite, nach der Mittelstraße, in Nr. 16, wohnt die Familie Kersting. Der junge Herr Kersting betreibt eine kleine Zoohandlung. Ich darf da manchmal die Zierfische ansehen. Ein Aquarium käme für mich aber nicht in Frage, es wäre zu teuer, und wir haben schon Pussi, die Katze meiner Oma. Pussi kommt ins Haus, da bin ich noch nicht in der Schule. Pussi ist meine Katze! Des Nachts liegt sie oft bei uns in der Wohnküche auf einem Stuhl, am warmen Herd. Pussi kann auf viele Arten miauen, ich weiß immer, was sie jeweils ausdrücken will. Nur, wenn sie träumt und dabei mit den Pfoten zuckt, dann verstehe ich nicht, was sie will. Vielleicht fängt sie im Traum 'ne Maus. Mäuse sind, seit Pussi im Hause ist, rar geworden. Vorher tobten sie nachts auf dem Boden herum, aber Pussi macht dem ein Ende. Wenn sie doch noch eine fängt, dann tötet sie sie nicht sofort, sondern sie bringt sie zu Oma und legt sie vor ihr ab. Wenn Oma sie ausreichend gelobt hat, frißt Pussi die Maus, oder aber sie spielt vorher noch mit dem halbtoten Tier. Dann sagt Oma und versteckt meinen Kopf in ihrem Schoß: "Komm her, Pummel, das ist nichts für dich!"

Eines Tages klettert Pussi mal wieder auf den Birnbaum. Von dort springt sie auf das Dach der Tribenstr. 20. Da sitzt sie und kann nicht mehr herunter. Die Feuerwehr kommt, sie zu befreien. Große Aufregung in der ganzen Straße! Als Pussi größer wird, bekommt sie jedes Jahr Junge. Sie verkriecht sich dazu irgendwo im Schuppen oder in einer Zimmerecke. Wenn Oma merkt, daß Pussi trächtig ist, fragt sie bei Familie, Freunden und Bekannten, wer eine kleine Katze haben möchte. Demjenigen, der eine will, schaut Oma fest in die Augen und sagt: "Du nimmst dann aber auch eine, ist das klar?!" Bevor Pussi ihre Jungen zur Welt bringt, ruft Oma mich: "Pummel, du gehst jetzt nach oben, das hier ist nichts für dich!" Wenn es mehr Junge sind, als Interessenten eine kleine Katze wollen, holt Oma einen Wassereimer und ertränkt die überzähligen Müschen (ausgesprochen: Müs-chen).

Pussi lebt bei Oma und Opa, bis Oma, am 7. April 1957, stirbt. Ich hätte Pussi gern in der Brucknerstr. 16, aber Pussi ist plötzlich weg. Mutti, die keine Tiere in der Wohnung haben will, läßt sie vom Tierarzt töten: "Ab und weg!" kommentiert sie das.

Hinten in der Tribenstraße, auf derselben Straßenseite wie wir, in der Nähe des Martinsganges, wohnt Familie Schröder. Deren Großvater stirbt, und es ist üblich, daß die Nachbarn aus der Straße kondolieren. Dazu haben weder Oma noch Mutti Lust, und sie schicken mich mit einem Blumenstrauß hin. Ich bin höchstens fünf oder sechs Jahre alt: "Gib ihn ab, und komm gleich wieder!" Es öffnet die weinende Witwe, nimmt den Strauß, ich will wieder gehen, da packt sie mich fest an der Hand und zerrt mich ins Wohnzimmer, wo der Leichnam aufgebahrt ist: "Du wolltest Oppa Schröder doch noch einmal sehen, nicht wahr?" Liebe Witwe, nicht nur einmal, ich habe ihn danach nächtelang gesehen.

Gegenüber dem Martinsgang ist eine freie Fläche, auf der eine riesige alte Rotbuche steht. Da suche ich im Herbst Bucheckern [Foto], die sehr gut schmecken. Leider ist in vielen Bucheckernschalen nur Luft, was man nicht immer gleich von außen sieht, sondern erst, wenn man die Schalen öffnet. Manchmal finde ich gar keine mit Inhalt, das ist dann kein schöner Herbst.

An der Ecke Bügel- und Tribenstraße ist das Hotel Haus Twachtmann. Dort, "Bei Twachtmann", muß ich mal für Vati, mal für Opa Bier holen. Ich bekomme einen gläsernen Krug mit Verschluß in die Hand, und auf geht's. Vati und Opa tütchern sich gern einen, aber meist nicht gemeinsam, weil sie einander nicht grün sind. Das kommt, weil der eine rot und der andere braun ist: "Ich bin Sozialdemokrat, und ich bleibe Sozialdemokrat!" erklärt Opa manchmal, und dann wird es still in der Wohnstube. Vati dagegen ist ein übrig gebliebener Nazi.

Ich liebe meinen Opa. Bis 1949 arbeitet er als Verzinker bei Streuber und Lohmann, bei SULO. Mülleimer, Kannen, Eimer aus Metall werden von ihm verzinkt. Manchmal muß ich Opa mittags den Henkelmann mit dem frisch gekochten Mittagessen bringen, dann sehe ich ihn, wie er hinter einer Glasscheibe einen langen Stab in der Hand führt. Damit zieht er die zu verzinkenden Stücke, die stetig an einem Seil über das flüssige Zink geleitet werden und tunkt sie eines nach dem anderen ein. "Pummel, bleib weg hier," ruft er, "das ist giftig und gefährlich!" Er stellt das Förderband ab, kommt heraus und schnappt sich den Henkelmann.

Opa arbeitet von montags bis samstags. Er verdient nicht viel. Den Lohn gibt es freitags. Dann steht Oma am Werktor und nimmt ihm das Geld ab. Er bekommt 50 Pfennig, die gerade für zwei Schnäpse reichen.

Vati geht manchmal aus, um sich einen zu schnasseln, wie Mutti das nennt. Er steuert zu Pütten Meier, an der Ecke Bügel-/Rennstraße, neben Bäcker Kleine. Man muß zwei oder drei Stufen steigen, um in den Schankraum zu gelangen. Pütten Meier ist ein alter lustiger Mann mit Glatze. Über dem Schanktisch steht sein Leitspruch:

Haste Kummer mit die Deinen,
geh zu Pütten, trink dich einen!
Ist der Kummer dann vorbei,
trink dich zwei!

Gegenüber von Pütten Meier liegt Renn-/Ecke Bügelstraße, neben der Schneiderei, ein abgeräumtes Trümmergrundstück. Dort baut vor der Währungsreform einmal jemand Tabakpflanzen an. Da ich meine Oma sehr liebe und weiß, daß sie Blumen mag, pflücke ich einige der Blüten der Tabakpflanzen und bringe sie strahlend nach Hause. Meine Oma ist entsetzt. Es kostet sie ein halbes Pfund Kaffee, den Raucher zu entschädigen. Mir wird eingebleut, ja niemals wieder von einem Trümmergrundstück irgend etwas mitzunehmen, erst recht keine Blumen abzupflücken. Daran halte ich mich fast immer bzw. eher selten, was mir einmal einer einzigen Rose wegen eine Tracht Prügel einbringt. Na, ja, im Grunde meiner Lüge wegen, ich behaupte nämlich aus Angst vor Strafe, mein Spielkamerad Klaus hätte die Rose gepflückt und sie mir geschenkt. Kläuschen steht neben mir, und ich denke, wenn ich das frech so sage, dann glaubt Vati es. Der fragt, und Kläuschen antwortet: "Nein, Onkel Traumann, die Rose hat Gudrun gepflückt." Ich muß vor Vati nach Hause laufen, die Treppen zur Wohnung hoch, Vati zieht im Schlafzimmer das dunkelgrüne Schnapprollo runter, es ist stockdunkel im Zimmer, und dann verprügelt mich Vati. Er schlägt überall hin, vor allem mit seinen bloßen Händen mir ins Gesicht. Ich weine laut, Oma ruft von unten: "Wenn du nicht aufhörst, komme ich hoch!" Darauf antwortet Vati: "Dann kriegst du sie gleich mit!"

Nach der Währungsreform steht Renn-/Ecke Bügelstraße eine Würstchenbude, in der von einem hochgewachsenen Mann mit schwarzem Schnurrbart und seiner blonden zarten Ehefrau Thüringer Rostbratwürste mit Senf verkauft werden, mit oder ohne Brötchen. Sie kosten pro Stück eine Mark, das Brötchen zehn Pfennig, was viel Geld ist. Zu der Zeit jammert Mutti, daß die Brötchen bei Bäcker Kleine nicht mehr fünf, sondern sechs Pfennig kosten. Manchmal gehen Vati und Mutti mit mir Würstchen Essen. Das ist ein Festtag für mich, Mutti kann nämlich im Gegensatz zu Oma nicht kochen. Als Gewürze dienen ihr Salz und Streupfeffer. Alles schmeckt immer fade.

Meine Eltern rauchen wie die Schlote, sie qualmen, wie man das bei uns nennt. Zigaretten werden gegenüber der Würstchenbude in der Rennstraße verkauft, in einem Tabakwarenladen mit Wettbüro, in dem es Totoscheine gibt. In den Schachteln sind zehn Zigaretten. Man kann sie auch einzeln kaufen, und es gibt sogar Päckchen mit drei Zigaretten. Collie, Navy Cut und Gold Dollar sind die Marken, die mir einfallen. Später gibt's noch Roth Händle, Ernte 23, Lord Extra, Lux, Overstolz, Peter Suyvesant und HB. Die Aufzählung ist sicher nicht vollständig. Ich muß freitags manchmal den ausgefüllten Totoschein abgeben und dabei Zigaretten kaufen. Neben dem Totoladen macht, in Rennstraße 40, wo heute das Eiscafé Martinelli ist, eines Tages der Milchhändler Heinzelmann einen neuen Laden auf. Den kleinen in der Bügelstraße gibt es nicht mehr.

Am Alten Markt 5, wo später Hettlage ist, befindet sich die Tauschzentrale; sie wird schon in der Chronik der Stadt Herford 1944, erwähnt. Dahin kann man Sachen bringen und sie für andere Sachen eintauschen. Als Hettlage dann dort ist, gibt es einmal eine Sensation. Im Schaufenster steht eine im Gesicht kalkweiß bemalte Figur, die mit Kopf und Armen ruckartige Bewegungen macht und sich ansonsten nicht vom Fleck rührt: "Mensch oder Maschine"? Die Herforder können abstimmen, und es werden durch Los Preise verteilt unter denjenigen, die richtig geraten haben. Ich meine, das könnte nur ein Mensch sein, eine solche Maschine herzustellen, wäre viel zu teuer. Einen Preis gewinne ich trotzdem nicht.

Oma kauft im Konsum (ausgesprochen Kónsumm), am Alten Markt, Ecke Rennstraße. Da kann nicht jeder kaufen, sondern nur Mitglieder der gleichnamigen Genossenschaft. Sie ist eine sozialdemokratische Einrichtung, oder steht der SPD doch mindestens nahe, und schon deshalb sind meine Eltern nicht Mitglied und kaufen nicht dort. Vati und Mutti wollten immer etwas Besseres sein, meint Oma. Ich verstehe nicht, was.


Vati arbeitet erst bei seinem alten Parteifreund Hans Beuermann, Wendt Groll, und auch Mutti ist dort tätig, als Buchhalterin, dann aber wird Vati Angestellter bei der "Wohnbau Herford", im Rathaus. Wenn er von seinen Aufgaben erzählt, meint man, ihm gehörte das ganze Rathaus, alle dort Beschäftigten wären ihm untergeben, dem Oberstadtdirektor Fritz Meister, dem Stadtkämmerer, allen geigt Vati die Meinung, es sind Sozialdemokraten, die von nichts 'ne Ahnung haben, meint Vati. Christa, die Tochter des Oberstadtdirektors, die ist noch dazu viel weniger intelligent als seine Tochter Gudrun. Die will Schmetterlingsfängerin am Amazonas werden, und Vati erkundigt sich im Rathaus, ob Mädchen dafür in Frage kommen. "Ja," weiß Vati am Abend, "aber nur, wenn sie die besten Zeugnisse heimbringen. Also, lerne! Wo sind deine Hausaufgaben?" Vati hat an ihnen viel auszusetzen, und ich muß noch eine Stunde korrigieren und verbessern.

Vati ist in der Deutschen Partei, er verachtet Opa, weil der nur Arbeiter ist und nichts gelernt hätte aus dem verlorenen Krieg. Seit dem 18. Juni 1950 ist Vati wer, denn er ist Stadtrat der Deutschen Partei. Ich darf mit ihm gemeinsam Wahlplakate kleben und bin sehr stolz. Während ich sonst um 19 Uhr ins Bett muß, kleben wir bis Mitternacht Plakate.

Über meine spirrigen, zu zwei Zöpfen, den "Rattenschwänzen", geflochtenen  Haaren streichen auf dem Parteitag in Goslar, Oktober 1952, Heinrich Hellwege, Hans-Joachim von Meerkatz und Hans-Christoph Seebohm: "So lange es Mädchen wie Gudrun gibt, ist uns um Deutschland nicht bange!" Die Parteifreunde lehren mich alle Strophen des Deutschlandliedes, das Horst Wessel Lied und Polenmädchen.

Eines Tages kommt Vati von einer Stadtratssitzung feixend nach Hause. Ein SPD-Stadtrat hat doch tatsächlich erklärt: "Wir bauen Wohnungen mit allem Komform!" Vati kriegt sich nicht ein vor Lachen: "Komform!" Die Tränen kullern ihm über die Wangen. Selten ist Vati so gut drauf, er hat nämlich Magengeschwüre. Dagegen macht er Rollkuren, nimmt  Lakritze und Roha Salz.

Den hölzernen Bollerwagen habe ich schon erwähnt. Es gibt in der Straße keine Familie ohne. Opa und Oma haben auch einen. Er dient uns zum Kohlenholen bei der Kohlenhandlung Scharfe, in der Johannis-/Ecke Wiesestraße. Wenn man dort auf den Hof kommt, dann liegen da große Haufen von Steinkohle, Koks, Brikett, und in den ersten Jahren nach dem Weltkrieg suppt auch Schlammkohle vor sich hin. "Schlammkohle fällt beim Waschen von Kohle an und wird mit dem Wasser in Absetzbecken geleitet, wo sie sich am Boden sammelt." Damit zu heizen, ist ein Kunststück.

Oma und Opa haben einen Schrebergarten an der Werre, in der Nähe der Melchior-Brücke. Die ist nur für Fußgänger. Zum Transportieren der Gartengeräte und der Ernte aus dem Garten wird der Bollerwagen ebenfalls genutzt, und für zum Einkellern vorgesehene Kartoffeln.

In den ersten Nachkriegsjahren aber bekommt der Bollerwagen zu Weihnachten einen ganz eigenen Wert. Opa fährt mit ihm bei Dunkelheit auf den Stuckenberg und organisiert zwei Tannen, eine für meine Großeltern und eine für uns, im ersten Stockwerk. Manchmal hilft ihm mein Onkel Heinz.

Nie habe ich mir über die Größe der Bäume Gedanken gemacht, jetzt aber rechne ich nach und komme zu dem Ergebnis, daß der Baum, der bei uns auf dem Nachtkonsölchen stand, in der Ecke des Zimmers, nicht höher als einen Meter gewesen sein kann. Für mich ist er riesig und ganz wunderbar, mit Silberlametta, silbernen Kugeln und echten weißen Kerzen. Das Lametta wird nach dem Plündern des Baumes glattgestrichen und für das nächste Weihnachtsfest verwahrt, die Kugeln sowieso. Aus den Kerzenhaltern wird das Wachs gekratzt, geschmolzen, und mit einem neuen Docht versehen, werden daraus Kerzen fürs nächste Fest. Mit Geschenkpapier und den roten und grünen Schleifen wird ebenso verfahren, sie werden glattgestrichen bzw. gebügelt und kommen in den Weihnachtskasten zu Kugeln, Kerzenhaltern und Lametta. Mein Lieblingspapier ist weißgrundig und verziert mit aufgemalten kleinen grün-goldenen Tannenzweigen.

Wir singen Weihnachtslieder. Opa, der früher als Hauer in der Zeche Recklinghausen arbeitete, von wo er seine Kohlenstaublunge hat, bringt auf mein Bitten hin jedes Jahr zusätzlich die lustige Variante von O Tannenbaum; die singt er krächzend zum Schluß, wenn es nicht mehr so feierlich ist:

O Tannebaum, o Tannebaum,
Kaiser Wilhelm hat in 'n Sack gehau'n.
Da kauft er sich 'n Henkelmann
und fängt bei Krupp in Essen an.
Da muß er jetzt Granaten dreh'n,
Auguste muß auf Hamstern geh'n.

Silvester kommt regelmäßig und unangemeldet das Ehepaar Walter und Gertrud Opitz zu uns zu Besuch, sie sind aus Ostpreußen. Walter ist Kraftfahrer bei Wendt Groll, Vatis Kollege, später sein ehemaliger Kollege; da arbeitet er in der Arzneiauslieferung. Meine Eltern, die sich sonst über alles und jedes aufregen, jedem und jeder aus dem Wege gehen, die sich und mich völlig isolieren, scheinen dem Ehepaar ausgeliefert zu sein. Das schneit bei uns rein, wann immer ihm danach ist. Dann muß ich zu Twachtmann, Bier holen, und Mutti bereitet Häppchen. Es geht bei uns zu wie sonst nie. Walter bestimmt über alles. An einem Silvester kommt er mit einem nagelneuen Grundig-Radioapparat und meint: "Es ist sonst zu langweilig bei euch bis Mitternacht!" Den Apparat müssen meine Eltern in Raten abzahlen, der ist nicht etwa geschenkt, sondern Walter hat ihn günstig besorgt.

Ich vermisse kein Radio bei uns; denn meine Großeltern besitzen eines aus der Vorkriegszeit [im Internet nicht aufzufinden], das hat zwei mit hellen Baumwolltüchern bespannte Lautsprecher. In der Mitte ist eine vertikale Glasscheibe, auf der die Sender angegeben sind. Man dreht an einem Knopf, um sie einzustellen. Der andere Knopf regelt die Lautstärke. Hinter der Glasscheibe ist ein kleiner Raum, vor dem ich manchmal sitze und warte, ob da die Menschen entlang gehen, die so schön singen und sprechen. Dann fragt Oma: "Pummel, was machst du da, willst du ins Radio kriechen?"

Das Radio meiner Großeltern ist für mich das Fenster zum Hof. Am 1. Januar 1948 wird der NWDR gegründet, und vom NWDR lerne ich die schönsten Lieder von Richard Tauber, Joseph Schmidt, von Komponisten wie Sigmund Romberg und Werner Richard Heymann, von vielen Sängern und Komponisten. Es gibt Operettenklänge von Emmerich Kálmán und Robert Stolz. "Von Hitler verbotene Musik," sagt Oma. Warum sie verboten war, sagt sie nicht. Ich bin nach der Schule und der Erledigung meiner Schularbeiten oft den ganzen Nachmittag unten, bei Oma und Opa, und höre die Musik dort. Ein Radio habe ich oben nie vermißt. Nun kann ich mir am 1. Januar das Gezänk anhören, wieso Vati dem Walter das Radio nicht einfach wieder mitgegeben hätte, und wie das nun bezahlt werden sollte.

Abends um 19 Uhr, wenn ich ins Bett muß, sind Nachrichten. Meist schimpft Vati dann lauthals über alles, was gesagt wird, und er kommentiert: Adenauer Verräter, Ollenhauer sowieso, und erst Herbert Wehner! Die einzigen, die Gnade finden, sind seine Parteifreunde von der Deutschen Partei.

Schlimm wird es mit unserem Radio jetzt jedes Jahr am Heiligen Abend. Ab 1953, da wohnen wir schon in der Brucknerstraße 16, sendet der NWDR, ab Heiligabend 1956 der NDR, an die deutschen Schiffe, die auf den Weltmeeren unterwegs sind, einen "Gruß an Bord". Im Studio in Hamburg sitzen die Angehörigen der Seeleute, sie werden mit dem Schiff verbunden, auf dem ihr Seemann unterwegs ist. Der kleine Dieter schreit ins Mikrofon: "Pappi. Pappi, kannst du mich hören?" Der Vater grunzt etwas aus der Ferne, und Dieter antwortet: "Hier ist auch Mammi, die noch etwas zu dir sagen möchte!" Mammi: "Wir vermissen dich so, Pappi, komm gesund wieder, wir warten auf dich!" Das so  drei bis vier Mal hintereinander, immer zu anderen Schiffen. Vati sitzt, das Ohr ganz dicht am Lautsprecher, und weint vor Rührung. Vati macht auf Süßsauer, nenne ich das. Mutti und ich sind dann abgemeldet, und es dauert eine Weile, bis Vati wieder Land unter die Füße bekommt.

Vati und Mutti sind für mich wie aus einer anderen Welt. Am besten können sie über andere Leute herziehen, rauchen, schimpfen, mich anschreien und verprügeln. Für alles, was sie mir Gutes tun, muß ich dankbar sein und das auch ausdrücken: "Danke, Mutti! Danke, Vati!"

Textilkaufhaus Hermann Herzfeld, hinten, links

Ich spiele mit Kalle, Peter, Klaus, Rolf und anderen Jungen in den Trümmern. Es geht bei Frau Lenger und ihren Hühnern sowie am Kindergarten vorbei zum teilweise zerbombten Textilkaufhaus Klingenthal, dem ehemaligen Besitz, bis 1938, der Familie Herzfeld, am Gehrenberg 15. Von den Besitzverhältnissen weiß ich zu der Zeit nichts. Ein Leser der Neuen Westfälischen sowie die Firma Klingenthal selbst wissen davon bis heute nichts. "1938 wurde das Klingenthal-Haus in Herford gegründet [sic]." Ein Leser berichtet, das Kaufhaus Herzfeld wäre "später von Klingenthal übernommen" worden, und einer schreibt, wie es wirklich war: "Schließlich das stattliche Textilkaufhaus der jüdischen Familie Herzfeld, deren Unternehmen 1938 zur Zwangsversteigerung gezwungen und von Kaufmann Franz Klingenthal übernommen worden war, der es nach dem schweren Bombenschaden im März 1945 in den 50-iger Jahren wieder aufgebaut hat."

Tim Elsner, vom Projekt "Orte jüdischen Lebens" der Abiturienten des Jahrgangs 2002 des Wilhelm-Normann-Berufskollegs, erforscht das Schicksal der Familie Herzfeld: "Helmut Herzfeld bezeichnete 1965 den Käufer Franz Kingenthal rückblickend als einen 'Anständigen’, der sein Gewissen belastete, als er uns den limitierten Preis bezahlte. ... Nach Kriegsende gab es, da es sich um einen regulären Verkauf gehandelt hatte, keine Rückerstattung des Vermögens oder Betriebes. Die Familien Klingenthal und Herzfeld regelten aber auf privatem Weg eine Wiedergutmachung."

Die Anbringung einer Gedenktafel hält die Firma Klingenthal für geschäftsschädigend.

Der Stadtrundgang zur Geschichte jüdischen Lebens in Herford informiert sachlich über diesen Geschäftssitz, der seit dem 18. Jahrhundert in jüdischem Besitz ist. Welche Geschichte der heutige Besitzer Ferdinand Klingenthal, am 16. Juni 2011, den Schülern der Realschule Enger über den Kauf, den Kaufpreis und vor allem über die Namensänderung des "stattlichen Textilkaufhauses" erzählt, liest man auf deren Website: Franz Klingenthal wollte, den "Namen den Produkten seines Ladens anpassen ..., da das vorherige Kaufhaus Alltagsprodukte vermutlich im Niedrigpreissektor, anbot [sic]."

Wo aber auch ein Kind in der Nachkriegszeit spielt!

Neben dem Kaufhaus Klingenthal steht eine Ruine, in der wir herumturnen und Räuber und Schander spielen: Händs öp! Pa-pa-paaa! Du bist tot, du bist tot! Nein, ich bin nur angeschossen. Humpel, humpel - und weg! Die Angestellten von Klingenthal entsorgen im Keller dieses ausgebombten Hauses die Holzwolle, die sie nicht mehr brauchen. Mutig springen wir da hinein, aber nacheinander und immer nur einer, weil die oben gebliebenen ihn mangels einer Treppe raus ziehen müssen. Einmal bricht plötzlich ein Schwelbrand in der feuchten Holzwolle aus, und wir schaffen es gerade noch, den Jungen, der da drin sitzt, mit voller Kraft herauszuholen. Ich bin über und über schwarz. Oma schlägt die Hände überm Kopf zusammen: "Laß das ja nicht deine Mutter sehen!" Ich muß in das Steingutbecken in der Küche, untern kalten Wasserhahn. Auch wenn ich mit 'nem aufgeschürften Knie nach Hause komme, einem "Bauplatz", wie das heißt, tut Oma sofort alles, daß Mutti nichts mehr sieht, wenn sie abends von der Arbeit kommt.

Mutti delegiert die Verantwortung für meine Taten, die ich während des Tages vollbringe, vollständig an Oma, und wenn es nicht problemlos läuft mit mir, bekommt Oma die Schuld. Seit Vati da ist, schreien sie beide außer auf mich noch auf Oma ein, und die antwortet: "Komm, Pummel, wir gehen!" Als Vati noch nicht da war, hat Mutti es sich niemals getraut, ihre Mutter anzuschreien.

Oma und Opa feiern Goldene Hochzeit, am 7. Dezember 1956

Pummel heiße ich sehr zum Neidwesen von Mutti weiterhin bei Oma und Opa. 1950 muß ich zur Dickfütterung nach Bad Laasphe, im Sauerland. Sechs Wochen bleibe ich dort. Heimweh habe ich keinen Tag, endlich weg aus der Umklammerung meiner Eltern, aus dem schmalen Bett mit Mutti. Nur meine Oma und mein Opa fehlen mir sehr. 1952, als ich zehn Jahre alt bin, wird das wiederholt, und ich fahre für sechs Wochen nach Norderney. Da nehme ich zur Freude meiner Familie acht Pfund zu!

Als ich ca. acht Jahre alt bin, darf ich auch ins Kino, wenn es Märchenfilme gibt im Wittekind oder im Capitol. Im Capitol ist sonntags am Vormittag Kino, das heißt Matinée. Der Eintritt kostet 50Pf. In der Passage des Kinos Wittekind eröffnet 1950 die Eisdiele Martinelli*; die verkauft das beste Eis, das je gegessen wurde. Eine Kugel kostet 10 Pf., ein Becher 50 Pf. Eine knusprige Waffel bekommt man ab drei Kugeln, eine oder zwei gibt's in einer blaßgelblichen Tüte, die aus ähnlich pappigem Zeug ist wie das eßbare "Löschpapier", falls das noch einer kennt, oblatenähnliche Masse und in allen Pastellfarben erhältlich. Die Familie Martinelli kommt aus Italien, im Winter fahren alle in ihre Heimat. Die Italiener werden "Spaghettis" genannt, das ist aber nicht böse gemeint, sondern neckisch. Wir lieben unsere Italiener, wir lieben ihr Eis, und im Frühling warten wir sehnsüchtig, daß die Familie Martinelli wiederkommt. Martinelli verkauft heute noch Eis in Herford, aber an der Rennstraße, wo früher der Milchhändler Heinzelmann war. Der Besitzer ist seit 2012 Roberto Garau.

* Ein Leser des Remensnider korrigiert: Die ersten Italiener waren Lazzarini. Martinelli kamen danach.

Neben Klingenthal, in der Brüderstraße, ist Bäcker Krömker, da klauen wir manchmal Backreste, wenn die Hintertür zur Backstube offen ist. Im Gehrenberg, schräg gegenüber von Krömker ist die Bäckerei Hansen, privat wohnt die Familie in der Hämelingerstraße, gegenüber der Kirche, zwei Häuser neben dem, in dem wir früher gewohnt haben. Tochter Ulla Hansen ist sehr eigenwillig bis störrisch. Richtig erfrischend, ich beneide sie um ihren Mut.

Soweit zu den Freuden meiner Kindheit in Herford.

Die letzte Anekdote betrifft meinen Namen. Eines Tages bin ich bei Tante Hilde, einer Cousine meiner Mutter. Ihre Tochter Erika ist die Schneiderin, die mir die schönen Kleider aus Vorkriegsstoff näht. Die schönsten Kleider, ihre Schneiderpuppe und die Stoffe sind mir in lebhafter Erinnerung. Tante Hilde fragt plötzlich: "Heißt du eigentlich Aschoff oder Traumann?" - "Ich heiße Traumann." - "Ach, dann bist du damals umgeschrieben worden." - "Ja, umgeschrieben." Das Wort kenne ich nicht. Eines Tages werde ich mehr wissen. Nur so viel:

Ich vereine auf mich vier Familiennamen und keinen richtig: Huchzermeier - Aschoff - Traumann - Eußner. Warum das so ist, und warum ich das erst seit November 2011 weiß, erzähle ich in einer anderen Geschichte, die auch schon geschrieben ist.

Freude meiner Jugend. 
Zuerst erschienen in der "Zeitschrift für Herford und das Wittekindsland"

Dr. Gudrun Eußner
5. Oktober 2015. Aktualisiert und erweitert, am 5. August 2019