2. Oktober 2022

Nachrichten aus der multipolaren Welt. Frankreich und der German Marshall Fund

Wer, am 1. oder 2. Oktober 2022, die Wochenendausgabe des Figaro auch zwischen den Zeilen liest, dem ist klar, daß Frankreich das Schmierentheater des Wolodymyr Selenskyj nicht mehr lange mitmacht. Bei dem Ukraine-Rußland-Projekt soll eh fast ausschließlich Gewinn für den militärisch-industriellen Komplex der USA rumkommen, der Rest ist Nachteil für Frankreich und die EU. Aber nicht einmal der Gewinn der USA ist wahrscheinlich, weil Joe Biden außer großen Worten nichts bringt.

Erstaunt liest man zunächst  die Schlagzeile: "Putin wiegelt Rußland gegen den Westen auf"; denn ob man für oder gegen die Ukraine oder Rußland ist, eines ist seit 20 Jahren klar: Der Westen wiegelt die Ukrainer gegen Rußland auf. Wer erinnert sich an Norbert Röttgen in orangener Cordhose, auf dem Maidan, 2004, oder an Bernard-Henri Lévy, 2014, dortselbst bzw. hinter der Bühne? Unvergessen! 

Frankreich zog immer alle Register, bis hin zur Lächerlichkeit:


"Ihr habt mit fast bloßen Händen die Milizen der Berkut zurückgedrängt. Ihr habt, allein oder beinahe allein Janukowitsch in die Flucht geschlagen [den umstritten gewählten Ministerpräsidenten der Ukraine]. Ihr habt mit einer großer Völker würdigen Kaltblütigkeit der Tyrannei eine historische Niederlage zugefügt. Und so seid Ihr nun nicht allein Europäer, sondern die Besten der Europäer.

[darin die ganze Rede ans Volk der freiheitsliebenden Demokraten der Ukraine]

Europäer seid Ihr sicherlich durch die Geschichte; aber von jetzt an auch, weil Ihr die Söhne Voltaires seid, von Victor Hugo und von Taras Chevchenko; aber Ihr seid das auch, weil zum ersten Mal hier, auf dem Maidan, die Jugendlichen gestorben sind mit dem Sternenbanner von Europa unter dem Arm."

"Der Westen nimmt das amerikanische Zurückweichen zur Kenntnis"
Les Occidentaux prennent acte de l’effacement américain. 
Par L.L., Le Figaro, 1/2 octobre 2022, p. 2, am linken Rand

Jetzt aber ist wohl Schluß mit dem Theater. Le Figaro berichtet am Rande über die jährliche Studie des German Marshall Funds (GMF) und der Bertelsmann-Stiftung zur öffentlichen Meinung in 14 europäischen und nordamerikanischen Staaten. Der GMF ist fest in Händen der US-Demokraten, und so warnt Programmreferentin Sophie Arts, Washington D.C., daß die Ukraine einer härteren Mannschaft gegenüber stünde, wenn die Republikaner die Wählen gewinnen; sie zitiert dazu:

DEFENSE. Ukraine aid faces tougher crowd if Republicans take over. By Connor O'Brien, 

"Der Kongreß ist bereit, mehr Hilfe zu leisten, aber zukünftige Verhandlungen könnten sich verstricken in innerparteilichen Kämpfen der Republikaner über die öffentlichen Ausgaben der USA."

PUBLIC OPINION IN TIMES OF GEOPOLITICAL TURMOIL
Transatlantic Trends 2022.

Wie bereits 2020 und 2021 würden die USA als die einflußreichste Weltmacht wahrgenommen (64%), von den Amerikanern selbst zu 86%. Der weltweite Einfluß der EU wird mit 17% und der von China mit 13% angenommen. 

So kann man China unterschätzen! Das ist aber nichts Neues. China und die Chinesen werden seit mehr als 100 Jahren unterschätzt. Ich habe diese Unterschätzung beruflich ab 1978 wahrnehmen dürfen. Bis 1989 ging es dabei für mich um Chinesen in den ASEAN-Staaten. Danach um alle, aus der VR China und aus den ASEAN-Staaten, "aus der Association of South East Asian Nations, ASEAN, der erfolgreichsten zwischenstaatlichen Organisation der heute sich entwickelnden Welt."

Indien wird ebenso unterschätzt. Der GMF hält Indien in den "Trends" nicht einmal für erwähnenswert.

The View from China and India on Russia’s Escalation in Ukraine, by Garima Mohan, Andrew Small, 

Die Zukunft betreffend, sehe die Wahrnehmung anders aus: In fünf Jahren werde der Einfluß der USA in der Welt auf 37% gesunken sein, die EU sei von 17% auf 15% gesunken, während China auf 25% geschätzt werde. Na, wenn's die Experten des GMF eruiert haben! 

Den Trend kann der GMF nicht verschleiern, wenn auch die Prozentzahlen grotesk sind. 😂

Die Direktorin des Pariser Büros des GMF  Dr. Alexandra de Hoop Scheffers vermerkt erstaunt, daß die Ergebnisse unerwartet seien. Trotz der Tatsache, daß die USA sich Europa wieder zuwendeten, ginge das Ansehen der USA in den befragten Staaten zurück. Wie wär's mit weil [!] die USA sich Europa wieder zuwenden, nämlich, sich in die Angelegenheiten des Kontinents aggressiv einmischen, um die politische und Wirtschaftskraft Europas, dabei hauptsächlich Deutschlands und Rußlands, zu ihren Gunsten bis hin zur Zerstörung zu schmälern? Frankreich wird dadurch wirtschaftlich und politisch in Mitleidenschaft gezogen, so groß ist der Haß auf Deutschland auch wieder nicht, daß die Regierung Frankreichs das hinnähme. Außerdem hat Frankreich eine andere Vorstellung von Souveränität als die USA, die diese im Zweifelsfall allein für sich selbst beansprucht, von Deutschland nicht zu reden, das zugunsten der USA auf alles verzichtet, sich die Existenz zerstören läßt.

The War Has Just Begun. The Winter of Yuri

Big Serge über die tatsächlichen Auswirkungen des Scheiterns von Nord Stream:
  1. "Deutschland verliert das bisschen Autonomie und Flexibilität, das es hatte, und wird dadurch noch abhängiger von den Vereinigten Staaten.
  2. Russland verliert ein Druckmittel gegenüber Europa, was die Anreize für Verhandlungen verringert.
  3. Polen und die Ukraine werden zu noch wichtigeren Transitknotenpunkten für Gas."
Wie bahnbrechend ist Rußlands Annektion ukrainischen Gebietes?"
How Much of a Game-changer Is Russia’s Annexation of Ukraine’s Territories?
by Gesine Weber, Markus Ziener, Michal Baranowski, Alina Inayeh, Kristina Kausch, 
Özgür Ünlühisarcıklı, Sophie Arts, GMF, September 29, 2022

Bevor der GMF zum Thema kommt, klärt er die Besitzverhältnisse der USA.

"GMF-Experten vermitteln aus verschiedenen transatlantischen Städten ihre Ansicht, ob, und wenn ja, wie dies [die Vereinigung von Donezk und Lugansk, von Cherson und Saporoschje mit Rußland] ihre Haltung beeinflussen wird, die Ukraine zu unterstützen und Rußland entgegenzutreten."

Die Ansichten kommen aus den Büros des GMF in Paris, Berlin, Warschau, Rumänien, Spanien, der Türkei und den USA. Sie alle werden als transatlantische Städte bezeichnet, was nur bedeuten kann, daß sie den USA gehören, wie sonst sollten die europäischen Städte und Ankara, das in Asien liegt, transatlantische Städte sein? Führt die Mitgliedschaft in der NATO zur Aberkennung geographischer Tatsachen, zur Eingemeindung europäischer und asiatischer Städte? Is it all theirs?

Andererseits wird aus London kein Bericht abgefragt. Ist London keine transatlantische Stadt, wenn sie schon nicht zu Europa gerechnet wird? Oder fehlt London, weil Großbritannien in Washington und Langley nicht als gefügiger Staat und Besitztum, sondern als tatsächlicher Verbündeter wahrgenommen wird, mit dessen Vorschlägen und Einwänden zu rechnen ist?

In Paris berichtet aus dem GMF-Büro nicht etwa ein Franzose, sondern gleich eine Deutsche, und ich behaupte ungeschützt, daß vom Staatspräsidenten Frankreichs bis zum letzten LFI-Abgeordneten das gar nicht gern gesehen wird. Solches macht man nicht ungestraft mit Frankreich.

Gesine Weber moniert das "nukleare Säbelrasseln" des russischen Präsidenten.

Nun, Gesine, mag er rasseln! Abgeworfen hat Rußland im Gegensatz zu den USA noch keine Atombombe; für die auf Hiroshima und Nagasaki haben die USA bis heute keine Abbitte geleistet. Barack Obama meinte zu dem Verbrechen an der Menschheit: "Der Tod fiel vom Himmel."

Barack Obama at Hiroshima: 'Death fell from the sky'

"Zusammenfassung. Barack Obama hat nicht um Verzeihung gebeten, sondern er bot in einer sorgfältig choreographierten Vorstellung eine einfache Betrachtung über die Schrecken des Krieges."