19. Juni 2012

Frankreich. Die Rechte auf der Suche nach einem Programm


Einen entfernten Bekannten, den man auf der Straße trifft, grüßt man hier: Bonjour, ça va ? Der so angesprochene antwortet dann meistens: Bonjour, ça va ! Manchmal aber ergänzt er: Je me débrouille ! Zu deutsch etwa: Tach, wie geht's? - Danke! oder: Danke, es muß! oder: Danke, geht so! Böse Zungen in Deutschland antworten auch: Danke, gestern ging's noch! Verwandte Wörter von se débrouiller = zurechtkommen sind brouiller = trüben, verwischen, brouillage = Störung, brouillard = Nebel, Dunst. Wer die Politik Frankreichs jenseits aller politologischen Analysen mit wenigen Worten beschreiben sollte, der hätte das hiermit erledigt: Je me débrouille !

Nicht nur die Politik, sondern auch die Medien handeln nach dieser Maxime, sie versuchen, sich aus dem Nebel heraus zu stochern. Le Figaro läßt seine Leser daran heute auf vielen Seiten teilnehmen, der eine stochert mehr links, der andere mehr rechts, aber nur ja nicht zu weit rechts. Das ist wie zur Zeit, als die Gesellschaft, Wissenschaftler, Herrscher und Volk, angenommen haben, die Erde wäre eine Scheibe. Da sollte man besser dem Rand nicht nahekommen, was schon damals unterschiedlich befolgt wurde. Der Klerus und die Gläubigen hielten sich strikt daran, aufmüpfige Wissenschaftler wagten sich bis zum Rand, ihn gar zu überschreiten, und siehe, sie entdeckten, daß es gar keine Erdscheibe gibt, sondern die Erde eine sich bewegende, kreisende Kugel ist. Wenn die französischen Linken von heute etwas beibehalten haben von ihrer einstigen Fortschrittlichkeit, dann ist es die fehlende Angst vor dem Rand.

Im Leitartikel der ersten Seite des Figaro gibt der Stellvertretende Redaktionsdirektor für Politik, Gesellschaft, Wissenschaften Paul-Henri du Limbert den Rand vor, der nicht überschritten werden darf: Keine Zusammenarbeit mit dem Front National! Ansonsten meint er, die UMP müsse einen "leader naturel" finden. Wie üblich beim Stochern im Nebel ist es hilfreich, in eine andere Sprache auszuweichen, er sagt damit, daß es in Frankreich nichts Vergleichbares gibt, nicht einmal ein Wort dafür. Der Pons bietet u.a. Bester, Stärkster, Führer, Gewerkschaftsführer. Aber die Nähe zum Begriff Führer, die ist schon so nah dem Rand, daß man ins Ungewisse fallen könnte, also: leader. Dann bräuchte die Rechte noch Ideen. Die mag sie sich nun auf dem eingegrenzten Raum zwischen den beiden Ungeheuern Scylla und Charybdis zusammensuchen, immer darauf bedacht, dem Führer und dem Front National fern zu bleiben. Man kann gewiß sein, daß bei solchem Vorgehen der größte Teil der Gedanken und Kräfte dabei verschwendet wird, darauf zu achten, was man nicht tun darf. Darin kennt man sich in Frankreich, dem pays du NON, bestens aus; beim Einfahren in manche Dörfer und Kleinstädte ist das NON bereits in großen Lettern auf die Straße geschmiert. Im Dorfgasthaus darf man sich erkundigen, um was es diesmal geht beim NON. Die von Paul-Henri du Limbert als orientierungslos eingeschätzten Franzosen mögen sich beim Figaro die Anweisung holen, wie sie sich zwischen Führer und Front National einrichten, und man sieht auch gleich, daß man dem arroganten Deutschland möglichst nicht zu nahe kommen darf, dem Land des Führers.

Das wichtigste Thema des Figaro ist die Linke und ihr Sieg, der wird auf den ersten vier Seiten ausgiebig gewürdigt. Sachliche Berichte, gar Kritik, sind nirgends zu lesen, sondern Bewunderung. Der PS-Dissident Olivier Falorni steckt in einem kleinen Kasten, nicht die geringste Information, gar Kritik am PS wird laut: Le cas Falorni à l'Assemblée. Der Fall Falorni in der Nationalversammlung. Am wichtigsten ist das Schicksal der ehemaligen Favoritin des Staatspräsidenten: Wird Ségolène Royal sich von ihrer Niederlage erholen? Nicht die Machenschaften des PS sind der Fall, gar der Skandal, sondern der Dissident, der sich gegen die Herrschaftsansprüche des Apparats der Rue Solferino verwahrt hat. Dann kümmert sich Sophie de Ravinel, auf Seite 4, um den PCF, die Kommunistische Partei Frankreichs, die der Regierung den Rücken zukehre: Le PCF tourne le dos au gouvernement. So, wie es dasteht, drückt es vollstes Einvernehmen mit den Kommunisten aus. Die Partei beklage, daß trotz vier Millionen Wählern des Front de Gauche (FDG), der Linksfront, keine linke Politik vom PS geplant sei. Ein Blick auf die Ergebnisse des ersten Durchgangs zeigt, daß der FDG im ersten Durchgang nicht 4 Millionen, sondern 1 793 192 Stimmen (6,91%) erhalten hat, nachzulesen auf der offiziellen Website des Premierministers. Die von den Kommunisten anscheinend beeindruckte Journalistin übernimmt kritiklos alles, was man ihr vor die Füße wirft.

Nachdem die Linke und ihr Sieg gefeiert sind, wendet sich Le Figaro, ab Seite 6, der UMP und ihrer Niederlage zu: L'UMP à l'heure des remises en cause. Die UMP zur Stunde der Infragestellungen. Im Artikel wird deutlich, wie die hohen Funktionäre der UMP sich hinterher, nach dem Wahldebakel, reinwaschen von ihrer Verantwortung. Damit profilieren sie sich für den Posten des "leader". Die Frage der Werte wird gestellt. Judith Waintraub setzt sie in Anführungszeichen, des "valeurs"; denn sie weiß anscheinend nicht, was gemeint ist. Keiner derjenigen, die jetzt schlau sind, haben vorher gewußt, daß ni ... ni, weder ... noch, keine Kategorie im Parteiensystem ist. Wie der Begriff Partei schon sagt, sind eindeutige Positionierungen gefordert, Parteinahme. Den Wählern ist es dann überlassen, sich weder für den einen noch den anderen Vorschlag zu entscheiden.

Wenn es keine Werte ohne Anführungszeichen gibt, ist auch eine Abgrenzung zum Front National hinfällig. Die könnte nur erfolgen, wenn Werte, Ziele und Inhalte des Parteiprogramms des Front National in der UMP analysiert würden. Das aber hat Paul-Henri du Limbert bereits in seinem Leitartikel für überflüssig erklärt. Wenn eh keine Zusammenarbeit, und sei sie noch so punktuell, erfolgen soll, bedarf es auch keiner Analyse der Politik des Front National, im Gegenteil, Wissen könnte nur auf den falschen Weg führen. Gleichzeitig aber erklärt Alain Juppé, einer der Prätendenten der leadership, daß von Fall zu Fall sehr wohl ein sozialistischer Kandidat die Stimmen seiner Partei bekommen könne: Si le candidat socialiste est un social-démocrate fréquentable, pourquoi pas. Wenn der sozialistische Kandidat ein akzeptabler Sozialdemokrat ist, warum nicht? Da fragt man ihn doch, warum die UMP nicht gleich im PS aufgeht, sie könnte so den Mitte-Rechts-Flügel dort stärken. Dann bräuchte man auch keine kleineren Links- und Rechtsparteien mehr, der PS hätte in jedem Fall die Macht, es sollte eine Einheitspartei gegründet werden Le Front droite-gauche républicain als krönender Ersatz für Front de gauche und Front républicain. Der Front National jedenfalls ist schlimmer als der Teufel, gemeinsame Werte mit ihm zu behaupten, ist Gotteslästerung. Wie aber hat die UMP mit ihrem Opportunismus und ihren "valeurs" überhaupt Werte identifiziert?

Es ist wie in einer Beziehung zwischen zwei Menschen: Nur wer Selbstbewußtsein besitzt, kann den anderen erkennen, seine Vorzüge und Fehler, kann entscheiden, ob eine Zusammenarbeit, ein Zusammenleben möglich ist. Den Politikern der UMP mangelt ein solches Selbstbewußtsein, darum ist die Partei ein Spielball von Opportunisten wie Alain Juppé, François Baroin oder Jean-Pierre Raffarin. Sie argumentieren nicht von der Grundlage akzeptierter Werte, sondern nach Wetterlage. Nun hat sie im ersten Durchgang eine Kaltfront in Gestalt von 3 528 663 Wählern des Front National (13,60%) erreicht, und sie stehen da ohne Mäntelchen, nicht einmal mit einem, das sie nach dem Wind drehen könnten, sie sind nackt. Das aber hindert sie nicht, in einer Art von Schlammringen um den Parteivorsitz zu streiten.

Dabei stecken ihnen die 3 528 663 Wählerstimmen in den Gliedern. Als sie die Kaltfront schon lange vor dem ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen anrollen sehen, übernehmen sie im Schnellverfahren einige Programmpunkte des Front National. Probleme, die sie auf Grund persönlicher und geschäftlicher Interessen jahrelang nicht ernstgenommen haben, exemplarisch sei hier die unkontrollierte Einwanderung von Muslimen nach Frankreich und nach Europa genannt, dieser Probleme nehmen sie sich plötzlich an. Leider fehlt ihnen dazu das Rüstzeug, von Finesse nicht zu reden, und von extrem links bis weit in die Mitte der Gesellschaft und der UMP schreit es: Rassisten!

Es stimmt wehmütig, wenn man die Bedingungen liest, unter denen Einwanderer in Australien, Neuseeland, Kanada und den USA akzeptiert werden. Dort sind wohl nur Rassisten an der Regierung?

Anstatt nun ans Werk zu gehen und eine Generalüberholung der Droite républicain zu fordern, auf daß diese sich grundsätzlich neu positioniere in der Parteienlandschaft Frankreichs, dreht man sich im Figaro im Kreis: Les limites de la poussée du Front National, über die Grenzen des Dranges des Front National sinniert Guillaume Perrault, auf Seite 8, und Jérôme Fourquet, Direktor der Abteilung Meinung und Unternehmensstrategien des Meinungsforschungs- und Umfrageinstituts IFOP, setzt die Spekulation pseudowissenschaftlich fort, auf Seite 15: Les limites du retour du FN à l'Assemblée. Die Grenzen der Rückkehr des FN in die Nationalversammlung. Es geht ihm beim FN um le pouvoir de nuisance du parti de Marine Le Pen, um ihre Macht zu schaden. Die schlechte Verankerung der Partei in den Wahlkreisen hemme ihren Drang nach Höherem. Der Begriff nuisance, von nuire = schaden, zeigt, daß der Autor keine wissenschaftliche Analyse liefert, sondern seine persönliche linke Meinung.

Nur zwei Sitze hat der FN bekommen, so viele wie der MoDem von François Bayrou. Kündigt sich das undemokratische Ergebnis schon im ersten Durchgang an, da errechnet man für die 3 528 663 Wählerstimmen des FN ebenso viele Sitze wie für die 458 098 Wählerstimmen des MoDem, nämlich maximal zwei, so manifestiert sich das undemokratische Wahlsystem im zweiten Durchgang: 842 684 Stimmen und 113 196 Stimmen bringen dem FN und dem MoDem je zwei Sitze. Über die Stimmenverteilung im ersten und im zweiten Durchgang der Wahlen zur Nationalversammlung informiert das Innenministerium auf der Website Élections législatives 2012.

Das aber ist kein Thema für den Figaro, sondern die Autoren ergehen sich in Häme: Der Front National hat keine Verbündeten! Wie funktioniert es denn bei den Linken? Die kunkeln bereits vor den Wahlen, schließen Verträge ab über Wahlkreise, die für den einen oder anderen reserviert sind. 60 solcher Wahlkreise überläßt die PS-Parteizentrale Kandidaten der Europa Ökologie-Die Grünen (EELV). Nicht alle können sie gewinnen, weil in einigen die UMP gewinnt, in ungefähr zwei Dritteln aber lokale Funktionäre des PS es sich wie Olivier Falorni nicht gefallen lassen. Deshalb gewinnen sie insgesamt nur 16 Sitze. La tutelle socialiste profite aux écologistes, die sozialistische Betreuung, Vormundschaft wirkt zugunsten der Ökologen, schreibt dazu Daniel Bois, der Forschungsdirektor des Zentrums für Politikforschung an der Sciences Po der Universität von Paris. Er sieht dank der Hilfe des PS neue grün-ökologische Persönlichkeiten vor Ort heranwachsen. Die Sozialisten züchten sich, gefördert durch das Wahlsystem Frankreichs, ihre Verbündeten selbst nach. Diese dürfen dann in ihrem Schatten politische Posten einnehmen und die Macht des PS stärken. Es versteht sich, daß der vom Staat, von den Steuerzahlern unterhaltene Wissenschaftler, nichts dabei findet. So finanzieren auch die 3 528 663 Wähler des FN die Verfestigung des Systems.

Inzwischen haben außer mir noch andere den Figaro gelesen, und nun findet man dort Erstaunliches. Es geht um ein anderes Wahlsystem für Frankreich: Le PS sans majorité avec la proportionelle intégrale. Die Sozialistische Partei ohne Mehrheit in einem vollständig proportionellen Wahlsystem. Das existierende Wahlsystem fördert das Zweiparteiensystem. Den Rechten kam das immer sehr gelegen. Zwei Graphiken veröffentlicht Le Figaro (siehe Abbildung), die eine zeigt die jetzige Sitzverteilung, die andere diejenige beim Verhältniswahlrecht. Eine Mischung von beiden findet man im Wahlrecht der Bundesrepublik, aber man kann bei dem Deutschenhaß vielleicht nicht erwarten, daß sich die Franzosen das einmal anschauen und gar übernehmen.

Die Vormundschaft der beiden großen Parteien über die kleineren hat zur Folge, daß diese nicht ihrem Gewicht entsprechend Sitze in der Nationalversammlung einnehmen. Sowohl die UMP als auch der PS kunkeln zur Sicherung und Ausdehnung ihrer Macht mit willigen Mitgliedern der kleineren Parteien, lassen den Front de gauche (FDG) und den Front National (FN) dabei aber außen vor. Während der FDG im ersten und im zweiten Durchgang 1 793 192 bzw. 249 525 Wählerstimmen auf sich vereint, sind es beim FN doppelt bzw. dreimal so viele, nämlich 3 528 663 bzw. 842 684 Wählerstimmen. Da der FDG in einigen Wahlbezirken tatsächlich besser verankert ist als der FN, schafft es der FDG aus eigener Kraft, zehn Sitze zu erlangen, während der FN sich mit zwei Sitzen begnügen muß. In Frankreich firmiert dieses undemokratische System unter dem Begriff Front républicain. Die kommunistische Humanité ist entsprechend enttäuscht: Pour le Front de gauche "ce n'est pas un bon résultat". Für die Linksfront "ist das kein gutes Ergebnis"; noch dazu hatten diese Linken in der letzten Nationalversammlung 19 Sitze, jetzt dürfen sie bei Gnade des PS mit zehn Abgeordneten eine Gruppe bilden, eigentlich bräuchte es dazu 15 Abgeordnete. So lebt nun auch die Linksfront unter Betreuung und Vormundschaft des PS. Welch eine Demütigung für deren Vorsitzenden Jean-Luc Mélenchon!

Die Graphiken im Figaro zeigen, daß die Linksfront (30 statt 10), die Grünen/Ökologen (24 statt 17), der MoDem (3 statt 2) und der Front National (85 statt 2) vom Verhältniswahlrecht profitieren würden, Verluste hätten der PS+Radikale Linkspartei+verschiedene Linke (223 statt 316) und die UMP+verschiedene Rechte (204 statt 209). Läßt man den MoDem zur Seite, dessen Vorsitzender sich einmal rechts ein andermal links definiert, zur Zeit links, so hätte die Nationalversammlung eine rechte Mehrheit 297 : 277, und dieses Verhältnis spiegelt die Gesellschaft Frankreichs wider. Die Vertretung der Linken in der Nationalversammlung verzerrt die gesellschaftlichen Gegebenheiten in Ausmaßen, daß man nur noch von herrschender Nicht-Demokratie reden kann. Das Schicksal Frankreichs liegt in Händen derer, die das Volk nicht repräsentieren. Die Rechte hätte die Aufgabe, in ihr Programm prioritär die Änderung des Wahlsystems aufzunehmen, stattdessen sieht die im rechten Spektrum der UMP angesiedelte Droite populaire ihre wichtigste Aufgabe darin, auch zukünftig keine Absprachen mit dem Front National zu tätigen.

Der Staatspräsident ist nur durch das Wahlsystem in eine Position gelangt, die ihm nicht zukommt. Man darf gespannt sein, wie lange sich die Franzosen das gefallen lassen. Diejenigen, die sich an der Horrorvorstellung eines Führers abarbeiten, deshalb lieber von "leader" reden und schreiben, sie haben mit François Hollande bereits einen Führer. Heil!