27. April 2023

Mayotte oder die Folgen einer umstrittenen Entkolonialisierung

"Französische Polizei bereitet eine Operation gegen illegale Einwanderer auf die Insel Mayotte vor"

Mayotte ou les conséquences d'une décolonisation discutée. Par Tanguy Berthemet, 

Bedauernd gestehe ich, daß ich mich für die Komoren, gelegen 1 200 km nordöstlich von Mosambik und 385 km nordwestlich von Madagaskar nie interessiert habe. Das hat sich geändert, da Mayotte, eine der vier einst zu den französischen Komoren gehörenden Inseln, Frankreich jetzt größte Probleme bringt. Aber von Anfang an!

Für die politischen Herrschaftsverhältnisse der Komoren, bis Ende der 60er Jahre, beziehe ich mich ausnahmsweise auch auf Wikipedia, für danach auf Tanguy Berthemet und andere.

Die vier Hauptinseln Grande Comore, Anjouan, Mohéli und Mayotte der Komoren sind unter arabisch-islamischer Herrschaft von Sultanen. Am 25. April 1841 verkauft Andriantsouli, ein madegassischer Prinz, der nach einem Staatsstreich auf die Insel flüchtet, diese gegen eine Leibrente von 1000 Piastern/Jahr auf Lebenszeit  an einen französischen Kapitän. Frankreich nimmt Mayotte in Besitz. 

"[Die Insel] Mayotte und ihre am 25. April 1841 an Frankreich verkauften Einwohner"
Mayotte et ses habitants vendus à la France le 25 avril 1841. Par Mouzamildine Youssouf

"Im Gegensatz zur offiziellen französischen Version und der Verteidiger von Mayotte la Française war die komorische Nation immer, lange vor der Ankunft der Franzosen, eine geschichtliche Realität. Früher, vor der Kolonisierung, genannt Djuzu l’Kamar, bestanden die Komoren immer aus einem Konglomerat von vier Inseln, die von einer Gruppe von Sultanaten und Stammesführern verwaltet wurde, die über die Inselgruppe verteilt waren. Trotz allem, trotz der Wechselfälle, die einer Inselgruppe eigen sind, war die komorische Nation in jedem Fall eine Realität, die durch mündliche Tradition, archäologische Funde und wertvolle historische Texte bestätigt wurde."

Ab 1886 gelangen auch die drei anderen Inseln durch weiteren Raub und durch Hehlerei an Frankreich, werden französisches Protektorat. Weder die Einwohner von Mayotte noch die der drei anderen Inseln wollen französisch werden, sie werden gar nicht gefragt. 

So weit zu "Mayotte la Française"!

Seit 1912 stehen die Komoren von Mayotte aus unter französischer Kolonialverwaltung. 1946 werden sie zum französischen Überseegebiet mit administrativer Autonomie erklärt. Die Bürger haben Wahlrecht zu allen Wahlen Frankreichs. Ein beschränktes Frauenwahlrecht wird in dem mehrheitlich islamischen Gebiet eingeführt. Es herrscht ein Zweiklassenwahlrecht, das französische Bürger bevorzugt. 1956 garantiert Paris allen Bürgern der Komoren das Wahlrecht und die volle innere Autonomie. 1958 entscheiden sich einem Referendum die Bürger mit klarer Mehrheit für einen Verbleib bei Frankreich.

"Die zwei etablierten politischen Parteien in den 1960er Jahren – der von Saïd Mohamed Cheikh geführte Parti Vert und der Parti Blanc unter Prinz Saïd Ibrahim Ben Ali – waren beide pro-französisch, konservativ und von den Nachkommen der Sultane dominiert."

Seit Beginn der 1960er Jahre werden die afrikanischen Kolonien der Briten, Franzosen, Portugiesen unabhängig. 1962 gründen Komorer in Tansania die Unabhängigkeitsbewegung Mouvement de la Libération Nationale des Comores (Molinaco), Bewegung der nationalen Befreiung der Komoren; ab 1967 weiten sie ihren Einfluß auf die Komoren aus.

"Das verbreitete Gefühl, von Frankreich vernachlässigt zu werden, verbunden mit der Unabhängigkeit des nahegelegenen Tanganjika und Sansibar und beginnenden Unabhängigkeitsbestrebungen in Mosambik, vergrößerte vor allem unter jüngeren Komorern die Zustimmung für die Unabhängigkeit."

Dennoch bleiben die Komoren von dem allgemeinen Trend zur Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten erst einmal ausgenommen, aber 1973 wird zwischen der Regierung Frankreichs und der Unabhängigkeitsbewegung ein Vertrag geschlossen, der 1974 zu einem weiteren Referendum führt, das unter der Schirmherrschaft der UNO stattfindet.

Die Bürger der drei Inseln Grande Comore, Anjouan und Mohéli entscheiden sich zu 99% für die Unabhängigkeit der Komoren, auf Mayotte stimmen 63% für den Verbleib bei Frankreich, so daß insgesamt 94,5% der Bewohner der vier Inseln für die Unabhängigkeit stimmen. Fünf blockfreie Staaten fordern, daß der UN-Sicherheitsrat das Referendum für ungültig erklärt. Vergeblich!

1975 erklären die Komoren ihre Unabhängigkeit von Frankreich.

Jetzt setzt ein Prozeß ein, den man genau betrachten sollte; denn entgegen den Bestimmungen der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) über die Unverletzbarkeit der Grenzen der afrikanischen Staaten bleibt Mayotte auf Entscheidung des Staatspräsidenten Giscard d'Estaing weiter eine Collectivité territoriale de la République française, eine Gebietskörperschaft Frankreichs. Die Entscheidung wird aus strategischen Gründen nach Vorstellungen des Generalstabs der französischen Marine getroffen. Man braucht sich nur die Lage von Mayotte anzusehen! Mit dem einzigen Veto, am 6. Februar 1976, das Frankreich bis heute im UN-Sicherheitsrat abgibt, verbleibt Mayotte bei Frankreich. Zwei Tage später wird erneut ein Referendum abgehalten, in dem 99% der Bürger von Mayotte für Frankreich stimmen. Der Marinestützpunkt ist gerettet!

Die Welt regt sich auf über diese Machenschaften. In einem in der UNO eingebrachten Antrag verurteilen 102:28 Staaten das Referendum. Andere folgen und fordern eine Entkolonialisierung.

Frankreich bleibt taub, und 2009 stimmt die Nationalversammlung dafür, daß Mayotte ein Departement Frankreichs wird. Seit 2011 sind die Bewohner Franzosen und seit 2014 Bürger der EU. In den folgenden Jahren sind die Beziehungen des Mutterlandes zur Regierung von Mayotte, in der Hauptstadt Moroni,  verhältnismäßig gut, Subventionen lassen erwarten, daß dieser wackelige Zustand anhält, daß der Fall Mayotte aus der Erinnerung verschwindet, schreibt Tanguy Berthemet. Aber es kommt anders; denn derweil versinken die Einwohner der Komoren im Elend, Mayotte mit seinem bescheidenen Reichtum erscheint ihnen dagegen wie ein Paradies, und eine massive Einwanderung wird organisiert.

Während der Amtszeit von Emmanuel Macron, ab 2018,  verschärft sich die Krise. Mehr als die Hälfte der 292 000 Bewohner von Mayotte ist heute illegal, die meisten setzen von den Komoren über. Aus der "umstrittenen Entkolonialisierung" entstehen für Frankreich menschliche, gesellschaftliche, politische und finanzielle Probleme immer größeren Ausmaßes, die Frankreich mit der Abrißbirne regeln will.

Weg mit den Hütten der Elendsviertel! Aber das Gericht von Mayotte ist nicht der Ansicht.

Sans-dents, le 26/04/2023 à 07:28
"Es gibt also im Innenministerium, beim Premierminister oder im Élysée keinen Juristen???
Wenn man eine Aktion dieser Art plant, zieht man dann Sachkenntnis hinzu???
'Seid stolz, Amateure zu sein' (E. Macron, 11. Februar 2020)"

Der Ausgang der Komoren aus der Armut wird als die einzige Lösung der illegalen Immigration angesehen. Dazu findet, vom 2. bis 3. Dezember 2019, in der Pariser Zweigstelle der Weltbank, eine "Konferenz von Partnern zur Entwicklung der Komoren" statt. Zugesagt werden dort mehr als vier Milliarden Euro an Investitionen, von denen bis heute 11% auf den Komoren eingetroffen sind.

Man kann sich vorstellen, daß Rußland und China nicht warten, sich der Probleme anzunehmen. Moskau sieht obendrein noch eine Parallele zum auf der Krim durchgeführten Referendum, das von Frankreich nicht anerkannt wird. Den Vergleich findet Tanguy Berthemet "absurd". Die Abtrennung von Mayotte wird mit Veto Frankreichs gegen einen von Moskau eingebrachten Antrag  im UN-Sicherheitsrat durchgesetzt, und das Referendum findet erst zwei Tage danach statt. Von der Seriosität der Maßnahme und der "regelbasierten Weltordnung" redet man besser nicht.

Kommentator Dany L, meint, am 27. April 2023, 14:07 Uhr:
"Es scheint also, daß das 'Recht der Völker, über sich selbst zu bestimmen' elastisch ist, legitim, wenn es darum geht, zu Frankreich zu gehören, 'absurd', wenn es sich bei der Krim um eine Wiedervereinigung mit Rußland handelt."

Wozu der Marinestützpunkt auf Mayotte, im Indischen Ozean, dient, ist auch nicht so recht klar. Zwar bereitet sich Frankreich auf neue Seekriege vor: Ahoi!, aber die werden wohl mehr nördlich geführt, und ob die wenigen Schiffe Frankreichs da mithalten können, wenn fern im Südchinesischen Meer die Waffen aufeinanderschlagen, ist fraglich.

PA75, der von Guadeloupe stammt, antwortet einem Kommentator, um 13:38 Uhr:
"Die Guadelouper wie die Mahoren [die Bürger von Mayotte] sind genauso Franzosen wie ein Bewohner des Cantal oder des Elsaß. Was Sie schreiben, das ist, daß Mayotte nicht französisch ist. Das ist sehr schwerwiegend, weil in diesem Fall ist welches Territorium französisch? Korsika? Das Baskenland? Die Bretagne? Das Elsaß?
Wenn Sie sich auf das Gebiet der 'Rückgabe' von Gebieten begeben, wissen Sie nicht, wo das enden wird. Letztlich bleibt vielleicht nur die Île-de-France, die französisch ist!
Ich persönlich lebe immer schon im Mutterland, aber ich versichere Ihnen, daß die Einheit des Mutterlandes mit den Überseegebieten eine starke Kraft ist für das Mutterland und auch für Übersee. Wenn die Franzosen die Fakten so beurteilen wie Sie, ist das dramatisch."

Toulon - Korsika 330 km, Toulon - Mayotte 7.385 km

Und was die Regierung Frankreichs angeht, so ähnelt sie sowieso derjenigen der Merowinger

Île-de-France, und fertig! Man braucht nur einmal zu untersuchen, woher die Minister stammen. Sie sind mit ein, zwei Ausnahmen aus Paris und Umgebung, maximal aus Nordfrankreich.

Die Ost-Pyrenäen, Hauptstadt Perpignan, sind in der IV. Republik [1944 - 1958] ein einziges Mal in der Regierung vertreten, mit Arthur Conte, Staatssekretär für Industrie und Handel. Seine Amtszeit dauert knapp drei Monate. Die zweite Ernennung findet 57 Jahre später statt. Im Jahr 2014 wird die in Boulogne-Billancourt, Region Île-de-France, geborene Wahl-Katalanin Ségolène Neuville für ein Jahr Staatssekretärin für Behinderte und für den Kampf gegen Ausgrenzung, bevor sie im Rat des Departements weiter arbeitet.

Aber zurück zu Mayotte und den Komoren:

Markierte Häuser, Abreissbefehle: Wie Frankreich Menschen von Mayotte abschieben lässt

Die Regierung der Komoren nimmt ihre illegal nach Mayotte eingewanderten Bürger schon deshalb nicht zurück, weil sie argumentiert, daß Mayotte zum Staat Komoren gehört. 

Affaire à suivre ...

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