7. November 2013

Perpignan. Chez Nabil


Ich wohne in einer Seitenstraße, in der Nähe des Bahnhofs, im Centre du monde, wie Salvador Dalí ihn genannt hat. Wo ich wohne, ist immer der Mittelpunkt der Welt, meine ich. Nun ist es auch von einem großen Künstler bestätigt. Das beruhigt mich.

Wenn ich aus dem Haus trete, geht's rechts zur Bahnhofsstraße, da gibt's außer einem Dutzend Dönerläden den besten Konditor von ganz Perpignan, und da sind auch mein Blumenladen und mein Stamm-Café. An der ersten Ecke meiner Straße, drei Häuser neben dem, in dem ich wohne, ist seit einigen Monaten ein kleiner Laden zu vermieten, à louer, ungefähr 25qm große Stellfläche, ein Schaufenster, maximal zwei Meter breit und zweieinhalb Meter hoch, daneben die Tür, ungefähr einen Meter breit. In der Wohnstraße gibt es sonst kein Ladengeschäft. Ich bezweifle, daß den Laden jemals einer mietet, aber eines Tages fallen dort drei junge Männer ein und renovieren, malern, bohren, schleifen, schmirgeln, klopfen, hämmern, eine junge Frau wischt die Bodenfliesen, und siehe, es soll eine Petite épicerie du coin werden, ein Tante-Emma-Laden. So berichten sie es mir, gucken aus der Tür und lachen.

Chez Nabil (Name von der Redaktion geändert), steht über dem Schaufenster. Und schon ist der Laden dekoriert. Über die ganze Schaufensterscheibe bringt Nabil einen weißen Tüllvorhang an, durch den seine Frau prima hinaus-, aber niemand in den Laden hineinsehen kann. Dadurch wird vermieden, daß neugierige Blicke sich auf die Waren verirren können, man muß den Laden schon betreten, wenn man sehen will, was vorrätig ist. Vor dem verhangenen Schaufenster stehen Böcke mit Tomaten, Avocados, Kartoffeln und einer Plastikschale Weintrauben, alles ohne Preisangabe. Man wird fragen müssen. Vor der Tür sitzt Nabils Frau auf einem Stuhl und raucht. Leere und gefüllte Saft- und Coladosen stehen neben und unter dem Stuhl. Der Laden scheint leer zu sein. Durch die offene Tür sieht man im Hintergrund, an der Wand, auf einem Regal, undefinierbare Dosen und Kästen. Einfach eintreten kann man nicht; denn Nabils Frau versperrt die Tür, man müßte sich an ihr vorbeizwängen oder sie bitten, Platz zu machen.

So vergehen die Tage, an einem regnet es, der Stuhl ist leer und naß, der Laden dunkel. Am Freitag stehen zwei Stühle vor der Tür. Auf einem sitzt Nabils Frau, auf dem anderen ihr Mann, Coladosen in den Händen. Sie unterhalten sich, trinken und rauchen. Die Frau ist elegant gekleidet und trägt hochhackige Schuhe mit sehr dünnen spitzen Absätzen. Beide grüßen freundlich: Bonjour Madame ! Bonjour Messieurs-dames ! erwidere ich und gehe zu unserem Haus.

Ich entwickle ein schlechtes Gewissen. Zum ersten Mal ahne ich, wie das abläuft im Kopf derjenigen, die meinen, sich den Forderungen der Muslime nicht entziehen zu können. Ich bin in einer solchen Lage, ich fühle mich genötigt. 

Inzwischen tut sich was am Laden, etwa gleichaltrige Freunde von Nabil kommen und belagern die Eingangstür, reden und lachen. Ich gehe an ihnen vorbei, keiner kümmert sich, sie sind miteinander beschäftigt. Ein Glück für mich!

An einem anderen Tag geschieht es, daß Nabil allein vor der Tür steht, als ich vorbeikomme, ruft er mir mit rauer Stimme ein Bonjour zu, in dem ich eine Drohung höre, etwa: Wieso haben Sie bei uns noch nichts gekauft? Was fällt Ihnen ein, hier nur so vorbeizugehen?

Gestern Abend sitzen auf den beiden Stühlen, vor der Tür, Nabil und ein anderer junger Mann, die Beine ausgestreckt über den ganzen Gehsteig. Ich trete auf die Straße, gehe um das Auto herum, das vor dem Laden am Straßenrand geparkt ist, und trete wieder auf den Gehsteig. Die Straße ist an der Seite unseres Hauses und des Ladens bis zur Bahnhofsstraße immer zugeparkt. Wer nicht über den Gehsteig kann, muß mitten auf der Straße laufen.

Ich entwickle Widerwillen gegen die Belagerer. Zum ersten Mal verstehe ich Leute, die nicht nur etwas gegen den Islam, sondern auch gegen Muslime haben. Bis auf ein einziges Mal, auf einer Dienstreise in Pakistan, und das ist schon lange her, sowie von meinem Ärger über die immer zahlreicher werdenden Kopftücher und wallenden Nachthemden alias Djellaba abgesehen, haben sich mir gegenüber Muslime noch nie negativ verhalten. 

Heute hat Nabil den Straßenrand freigemacht, ein parkendes Auto wird seinen Laden nicht mehr verstellen; denn er hat mit den zwei Stühlen den Stellplatz reserviert. Prima, denke ich, muß ich nicht auf die Straße, gehe also vorbei an seiner Frau, die mir ein Bonjour Madame ! hinterher schimpft. Ob jemand im Laden ist, weiß ich nicht, interessiert mich auch nicht, die Tüllgardine verwehrt weiterhin den Blick, aber am Rande des Fensters sehe ich eben noch, daß ein Schild Pain angebracht ist. Es wird Brot angeboten.

Nun warte ich auf den nicht fernen Tag, da dieser Laden pleite ist, und ich nicht mehr drohend oder vorwurfsvoll begrüßt werde, da ich nicht ausgestreckter Beine wegen auf der Straße zu unserem Haus gehen muß, da ich auf der Straße keine widerstreitenden Gefühle mehr ordnen muß, kurz, daß es wieder so wird wie früher.

Affaire à suivre ...