Heute ist Samstag, und ich werde mich ins Feiertagsgetümmel stürzen. Zunächst wird ordentlich gefrühstückt, es soll so reichhaltig sein wie das Sabbat-Frühstück der Vorwoche auf meiner Terrasse in Maalot, mit Blick auf den Monfort-See, bei Régine und Paul; der mit der Vorbereitung des Treffens mit dem Bürgermeister verbrachte Vormittag ist in Israel einer Anfängerin [9] geschildert.
Gegen 9 Uhr begebe ich mich auf die Terrasse des Cafés X-Ray, in der Bograshov. Ein Ehepaar meines Alters sitzt dort mit seinem Hund, frühstückt und trinkt dazu Wasser mit viel Minze, jedenfalls sieht es so aus. Ich frage. Als Antwort bekomme ich, es sei nana. Ja, sage ich doch!
Das ist die arabische und persische Bezeichnung für Minze: نعناع, na'na oder nana. Hebräisch heißt es nana, mit dem Quetschlaut ayin, wie im Arabischen und in Farsi. Kaum zu Ende diskutiert, steht ein großes Glas des Getränks vor mir, das Ehepaar lädt mich ein. Nana schmeckt gut und ist erfrischend. Bei den sommerlichen Temperaturen und meinen deplazierten zu warmen Herbstklamotten ist nana sehr angebracht.
Mir fällt auf, daß die Frau Crocs Cayman Model Celery trägt, in der Farbe passend zu ihrem Outfit. Mein Wunsch wird stärker: ich muß auch Crocs haben. Alles, was man schon immer über den Konsumterror weiß, wird wahr.
Zunächst aber bestelle ich wieder Shakshouka, dazu gehört im X-Ray eine Portion Salat aus Gurken, Tomaten und Zwiebeln mit einer Kräutersoße. Ich habe Shakshouka bereits in Israel einer Anfängerin [4] vorgestellt. Das Rezept dieses Favoriten der sephardischen Küche hat es bis auf die offizielle Site des israelischen Außenministeriums geschafft. [Nicht mehr online. Israel hat jetzt andere Sorgen!]
Endlich kann ich auch den für Deutsche meist unerträglichen dünnen Kaffee trinken, der mir in Amerika so gut schmeckt, im X-Ray, dessen Besitzer aus Nordafrika stammen, heißt er entsprechend café américain. Auch hier ist die Bedienung wieder freundlichst und kommunikativ: mit einem Lächeln wird man hebräisch, englisch oder französisch gefragt, ob's recht ist, ob's recht war; wenn der Gast einverstanden ist, wird ein Schwätzchen gehalten, es findet sich immer eine Sprache, in der man sich verständigen kann. Nur im Supermarkt von Maalot treffe ich eine entsetzliche russische Alte, die im nächsten Leben als Teufels Großmutter auftreten wird; sie ist die einzige Ausnahme.
Die Buchhandlung „Landsberger Books“ in Tel Aviv gibt es nicht mehr.
Ihr Antiquar Ernst Laske war einer der letzten Jeckes
Nach dem Frühstück begebe ich mich auf Erkundung der Stadt, quer durch Straßen und Gassen. Mir fällt wieder auf, wie sauber es ist, keinem Hundekot ist im Slalom auszuweichen, obgleich reichlich Leute mit Hunden unterwegs sind; die leeren Plastikflaschen stapeln sich in Gittercontainern, Papier liegt nicht herum. An der Ben Yehuda Nr. 116 stoße ich auf einen Buchladen, der "Landsberger" heißt.
Artur Landsberger: Berlin ohne Juden. 1925
Hg. und mit einem Nachwort von Werner Fuld. 224 Seiten,
Ich denke an Artur Landsberger: "Berlin ohne Juden", das Buch von 1925 mit dem illusionären Happy End: Die Geschichte geht nicht so aus wie in der Wirklichkeit, sondern "das Ausland stellt sich geschlossen gegen Deutschland und boykottiert die deutsche Wirtschaft. Protest bricht aus, die Maßnahmen müssen zurückgenommen werden." Artur Landsberger veröffentlicht diese Satire auf die Nazis im selben Jahr, in dem Adolf Hitlers "Mein Kampf" erscheint. "Die Handlung allerdings wirkt durch ihre spätere Realität geradezu gespenstisch," steht im Klappentext.
Vom Dandy zum Haderer. Artur Landsberger (1876 - 1933) Vergessene Autoren.
Artur Landsberger, aus der Bamberger Str. 57 in Berlin, von der Literaturkritik als unbedeutender Trivialautor abgetan, erlebt nur noch die Anfänge davon, was aus seiner Satire wird. "Als am 10. Mai 1933 die Scheiterhaufen lodern, verbrennen auch seine Bücher. Schlimmer jedoch ist die Bedrohung an Leib und Leben: Der herzkranke Landsberger ist einer der ersten auf den Säuberungslisten. Am 4. Oktober 1933 schluckt er an seinem Schreibtisch sechzehn Veronaltabletten."
Artur Landsbereger schreibt in dem Buch, im Kapitel: Judenopfer, S. 47ff.:
"Äußerst rechter und äußerst linker Flügel werden sich auf dem Wege Antikapitalismus begegnen und sich auf die Parole einigen 'Nieder mit den Juden!'
Die Mentalität des deutschen Volkes (jedes Volk hat seine eigene, und nur durch die Verschiedenheit ihrer Mentalität unterscheiden sich die Völker voneinander) ist ausdrückbar in zwei Worten, die lauten: vult decipi. Es will getäuscht sein, es will die Wahrheit, sofern sie unangenehm ist, nicht wissen und lieber mit der Lüge untergehen als mit dem Bekenntnis, daß es sich geirrt hat, weiterleben. Diese sehr simple Wahrheit kleidet es euphemistisch in die Worte: es will nicht seine Ideale opfern.
Der Kapitalismus ist das Schlagwort der Kommunisten, die 'Juden' das sinnfälligere und daher zugkräftigere Schlagwort der Rechten. ... Kapitalismus ist ein Schlagwort, mit dem man Leidenschaften anfachen, die Juden die Opfer, an denen entfachte Leidenschaft sich austoben kann. Sie sind nun einmal die Prügeljungen der Weltgeschichte und werden es bleiben, sofern sie nicht, dieser Rolle überdrüssig, sich eines Tages auf sich selbst besinnen und sich zu einer Volksgemeinschaft zusammenschließen.
Ein Volk wie das deutsche wird immer ein Spielball in der Hand eines gewandten Hasardeurs sein, der seine Mentalität geschickt zu nutzen weiß ..."
Aber auch mit der Gründung des jüdischen Staates endet der Haß nicht, wie man bis heute sehen kann, übertragen wird er auf die Volksgemeinschaft Israel.
Nun stehe ich vor der Buchhandlung "Landsberger". Sie ist eine der ersten in Tel Aviv, gegründet 1930, als die Großeltern des heutigen Besitzers aus Deutschland emigrieren. Der Laden dient in jenen Tagen als deutsches Kulturzentrum. Heute verkauft "Landsberger" hauptsächlich neue und antiquarische englisch- und hebräischsprachige Literatur im Fachgebiet Philosophie.
In der Auslage befindet sich ein hebräisches Buch, dessen Titel ich nicht verstehe, wohl aber eine Karikatur auf dem Umschlag. Man sieht eine blonde Frau, die von einem Mann begrüßt wird. Darunter steht in gotischer Fraktur: "Am Bahnhof erwartete mich ein Mann. Er zog seinen Hut und war sehr freundlich zu mir. Aber ich merkte gleich, daß es ein Jude war ..." Im Hintergrund sieht man eine Bahnhofsszene: Ankunft der Züge aus Richtung Nürnberg, Wien. Der Karikaturist nennt sich Fifilo. Im Internet findet sich nichts zum Karikaturisten. [Aber jetzt!] Zum Namen weiß die Passauer Universität, er komme aus dem Mittellateinischen; es handele sich um eine Lautverschiebung aus Süddeutschland: Der Passauer Bischof Vivilo wird auch Fifilo oder gar Phiphilo geschrieben. Vivilo ist der erste Bischof in Passau, 731/7 - 746/7. Man sieht, der Zeichner kennt sich in der Geschichte seines Landes und mit dessen Antisemiten gut aus. Ich beschließe, an einem Tag, an dem geöffnet ist, den Besitzer zum Titel des Buches zu befragen. Schließlich bleiben mir noch zwei ganze Tage!
Günter Förgs Fotografien: Bauhaus Tel Aviv - Jerusalem. Von Stefan Meyer, israeli-art.com
Einige Häuser neben der Buchhandlung "Landsberger", in der Ben Yehuda Nr. 120, befindet sich in einem der zahlreichen Bauhaus-Ensembles von Tel Aviv das Café-Restaurant Libra. Dort kehre ich ein und trinke erst einmal einen Espresso.
Ich mache mich auf den Weg zum Nahal Ha Yarkon, dem Yarkon-Fluß, und zum Hafen, dem Namal Tel Aviv. Unterwegs überholen mich Autokolonnen mit Familien und Freunden, die ebenfalls dorthin wollen. In den Straßen sehe ich einige schwarzgewandete Männer, die anscheinend mit ihren Familien aus der Synagoge kommen. Merkwürdig ist, wie sie gehen: sie staksen, watscheln, stolzieren erhobenen Hauptes geruhsam und ganz ohne Eile ihrem Heim zu, ihrer Rolle als Familienoberhaupt wohl bewußt. Je näher ich dem Nahal Yarkon komme, desto mehr Menschen treffe ich, junge und alte, die lachen und scherzen. Dann bin ich am Ufer, und wie staune ich: wenn ich über den Fluß blicke, meine ich, in Berlin zu sein, irgendwo an einem Hafenbecken der Spree.
Der etwa 27 Kilometer lange Nahal HaYarkon hat seinen Namen vom hebräischen Wort יָרוֹק yarok, grün, der Fluß mündet im Norden Tel Avivs ins Mittelmeer. Dort befindet sich die Reading Power Station, an der Shefech Hayarkon, der Mündung des Flusses. Ich gehe bis zur Wokop-Brücke vor, dann aber will ich endlich zum alten stillgelegten Hafen, dem ersten jüdischen Hafen in Palästina, mit seinen Läden, Galerien, Clubs, Cafés und Restaurants; ich will einkaufen und speisen.
Am Hafen ist halb Tel Aviv unterwegs, in Paar- sowie in Gruppen- und Großfamilienstärke. Die Hälfte von ihnen tragen Crocs in allen Farben. Ich finde den Laden Le'ela, wo der Stammgast der Sushi-Bar seine Geschenke gekauft hat; er ist wirklich voller bizarrer Waren, die alle in Israel hergestellt sind. Es gibt T-Shirts mit dem Aufdruck in Hebräisch "Dank sei dem Herrn, der mich als Frau geschaffen hat", als Antwort auf den täglichen Gebetsseufzer der Männer, die sich bei Demselben dafür bedanken, daß sie keine Frau sind, und anderen Sprüchen in Hebräisch und Jiddisch. Leider kann ich sie nicht lesen, sondern nur mitkriegen, daß sich Juden in Englisch darüber amüsieren.
Für meine Nachbarn, die meine Pflanzen gießen, kaufe ich ein kleines quadratisches Holzbrett, in das ein Frauengesicht geritzt ist. An Stelle der Nase, von der Wurzel bis oberhalb der Lippe, ist eine dünne Kette hin und her zu schieben: "Das Spiel mit Nasen" heißt die Erfindung. Man kann dicke und lange, krumme und gerade Nasen zaubern. Der Verkäufer packt mir das Teil als Geschenk ein, und ich kaufe noch einen kleinen Dreidel. Das brauche nicht als Geschenk eingepackt zu werden, sage ich zu ihm, das sei für mich. Da nimmt er ein durchsichtiges weißes Gazesäckchen mit zwei seidig schimmernden feinen Schlaufen, packt den Dreidel hinein und lächelt lieb: Bitte sehr!
Es gibt auch einen Laden mit bunten Crocs, sie kosten wie in der Stadt 199 Schekel. In den Restaurants am Hafen ist kein Platz frei, lange Schlangen von Wartenden stehen vor den besten. Ich werfe einen Blick auf das Gebäude von Max Brenner: A chocolate love story. Max Brenner, ob geschlossen oder geöffnet, ich weiß, daß Sie exzellente Schokolade verkaufen, aber leider mag ich keine. Es tut mir schon in Perpignan täglich leid, wenn ich beim Confiseur um die Ecke mein Croissant kaufe. All die wundervollen Pralinen, Kuchen, Schokoladen, bei deren Anblick Menschen angeblich schon ausgeflippt sein sollen - mir bedeuten sie nichts.
Ehe ich lange und wahrscheinlich vergeblich nach einem Platz in einem der Hafenrestaurants suche, begebe ich mich zurück zum Libra und esse dort auf der Terrasse zu Mittag. Das Restaurant kann sich mit jedem guten französischen Restaurant messen. Dann begebe ich mich zurück zur Bograshov und mache Halt in der Bar Tverya, Tiberias. Dort lese ich weiter in Joan Peters: From Time Immemorial. Ich verlinke hier die kritische Rezension von Daniel Pipes. Weitere Informationen findet man darin.
Joan Peters: From Time Immemorial. The Origins of the Arab-Jewish Conflict Over Palestine. Reviewed by Daniel Pipes, Commentary, July 1984
Kaum scheinen drei Sterne am Himmel, fahren die Busse wieder, und die Stadt wacht aus ihrer Sabbat-Ruhe auf. Ich speise gepflegtest im Restaurant Olive, die Gäste sind von überall her, außer vom Nordpol, schätze ich mal. An einem Tisch auf der Terrasse arbeiten Gäste an ihren Lab Tops. Ich mache mir Gedanken über die Entstehung Israels: Einer geht durch die Welt und bittet die Länder, etwas von ihrem Typischen abzugeben, von Menschen und Gebräuchen, von Speisen und Sprachen; es sei da am Mittelmeer ein kleines Gebiet zu besiedeln und zu gestalten. Aus allen Ländern strömt es so zusammen, und das ist Israel heute.
Morgen kaufe ich Crocs ...
13. Januar 2008 - Verbesserungen und Ergänzungen, 22. Juni 2025
Israel einer Anfängerin [2]: Von Barcelona nach Tel Aviv, 20. November 2007
Israel einer Anfängerin [3]: Tel Aviv-Yafo, 24. November 2007
Israel einer Anfängerin [4]: Tel Aviv, 25. November 2007
Israel einer Anfängerin [5]: Neve Tsedek - Rehovot. 26. November 2007
Israel einer Anfängerin [6]: Kfar Saba. 3. Dezember 2007
Israel einer Anfängerin [7]: Maalot-Tarshiha. 7.Dezember 2007
Israel einer Anfängerin [8]: Maalot-Tarshiha in Perpignan. 9. Dezember 2007
Israel einer Anfängerin [9]: Shlomo Bohbot, Maalot und Tarshiha. 13. Dezember 2007
Israel einer Anfängerin [10]: Rückkehr nach Kfar Saba. 15. Dezember 2007
Israel einer Anfängerin [11]: Auf dem Weg nach Jerusalem. 18. Dezember 2007/16. Januar 2008
Israel einer Anfängerin [12]: Dieses Jahr in Jerusalem! 20. Dezember 2007
Israel einer Anfängerin [13]: Ein Tag in Jerusalem. 26. Dezember 2007
Israel einer Anfängerin [14]: Nächstes Jahr in Jerusalem! 28. Dezember 2007
Bisher erschienen:
Israel einer Anfängerin: Episodio de la Historia. 17. November 2007Israel einer Anfängerin [2]: Von Barcelona nach Tel Aviv, 20. November 2007
Israel einer Anfängerin [3]: Tel Aviv-Yafo, 24. November 2007
Israel einer Anfängerin [4]: Tel Aviv, 25. November 2007
Israel einer Anfängerin [5]: Neve Tsedek - Rehovot. 26. November 2007
Israel einer Anfängerin [6]: Kfar Saba. 3. Dezember 2007
Israel einer Anfängerin [7]: Maalot-Tarshiha. 7.Dezember 2007
Israel einer Anfängerin [8]: Maalot-Tarshiha in Perpignan. 9. Dezember 2007
Israel einer Anfängerin [9]: Shlomo Bohbot, Maalot und Tarshiha. 13. Dezember 2007
Israel einer Anfängerin [10]: Rückkehr nach Kfar Saba. 15. Dezember 2007
Israel einer Anfängerin [11]: Auf dem Weg nach Jerusalem. 18. Dezember 2007/16. Januar 2008
Israel einer Anfängerin [12]: Dieses Jahr in Jerusalem! 20. Dezember 2007
Israel einer Anfängerin [13]: Ein Tag in Jerusalem. 26. Dezember 2007
Israel einer Anfängerin [14]: Nächstes Jahr in Jerusalem! 28. Dezember 2007
Israel einer Anfängerin [15]: Wieder in Tel Aviv. 12. Januar 2008
Israel einer Anfängerin [16]: Sabbat in Tel Aviv. 13. Januar 2008
Israel einer Anfängerin [17]: Vom Frühstück zum Friedhof. 17. Januar 2008