5. Juli 2011

Die Juden in der Antike. Willensfreiheit und Unsterblichkeit

(a) Der erste Punkt, unter dem Josephus die Lehren der drei Gruppen abhandelt, ist die Willensfreiheit. Hier nehmen die Pharisäer eine Mittelstellung zwischen den Essenern und den Sadduzäern ein: Während die Essener die allmächtige Gewalt des Schicksals (heimarmenë) lehren, gegen die der Mensch nichts auszurichten vermag, und die Sadduzäer im Gegensatz dazu das Schicksal gänzlich ablehnen und alles dem menschlichen Willen anheimgeben, vertreten die Pharisäer das Zusammenwirken von Schicksal und menschlicher Vernunft. (35) So sehr Josephus gerade beim Thema der Willensfreiheit von der Erwartung seiner Leser beeinflußt sein dürfte - dem griechischen Leser war zweifellos die deterministische Einstellung der Essener besonders vertraut -, hat das Problem doch auch eine jüdische Tradition, (36) und Josephus mag daher die wesentlichen Unterschiede der einzelnen Gruppen durchaus korrekt wiedergeben.Die "Kompromißformel" der Pharisäer fand ihre direkte Fortsetzung im rabbinischen Judentum in dem berühmten Ausspruch R. Aqivas: "Alles ist (von Gott) vorhergesehen, aber (dennoch ist dem Menschen) die Erlaubnis (d.h. die Möglichkeit der Wahl) gegeben." (37)

(b) In der Frage der Unsterblichkeit lehren die Pharisäer zusammen mit den Essenern die Unsterblichkeit der Seele, während die Sadduzäer den Unsterblichkeitsglauben prinzipiell ablehnen und davon ausgehen, daß die Seele mit dem Körper zugrunde gehe. Im Unterschied zu den Essenern haben die Pharisäer darüber hinaus offenbar als einzige der drei Gruppen die Auferstehung des Leibes vertreten; anders ist die Wendung "aber nur die (Seelen) der Guten gehen in einen anderen Leib über" kaum zu interpretieren.

(35) So am deutlichsten in Ant. XVIII,1,3 § 13 [erschienen 93/94 n.Chr.]

(36) Vgl. Koh [Kohelet. Salomo, Sohn Dawids, König von Jeruschlajim] 3,1-15; 9,1.3; 9,11 f.; Sir [Jesus Sirach] 15,11-17; 16,17-23 [die sichere Vergeltung].

(37) Av 3,15

[Zu Quelle 35: Chaim Cohn, Der Prozess und Tod Jesu aus jüdischer Sicht, 2001, Insel Verlag. "Während es unter den Hohenpriestern und Ältesten viele Sadduzäer (Die Sadduzäer erkannten als bindend lediglich die schriftlichen Gebote der Tora an.) gab, waren die Gelehrten im Sanhedrin Pharisäer (Die Pharisäer 'erweiterten' die Tora um die mündlichen Gesetzesüberlieferungen, die Mischna.). Josephus (vgl. F. Josephus: Antiquitates judaicae, 18, 1,3) beschrieb die Pharisäer folgendermaßen: 'sie waren arm und strebten nicht nach weltlichem Reichtum, verhielten sich umsichtig und handelten stets aufgrund gewissenhafter Überlegungen und nach bestem Wissen, waren zudem bescheiden und bezeugten ihren Ältesten Respekt; nicht zuletzt waren sie fromm und glaubten, ein barmherziger Gott werde allen guten und gerechten Menschen in einer besseren kommenden Welt die Qualen, die sie auf Erden erlitten hatten, vergelten'. Die Pharisäer standen in dem Ruf einer rigorosen Gesetzlichkeit und einer peinlich formalistischen Genauigkeit bei der Beachtung jeder kleinen Einzelheit des Gesetzes. Es besteht kein Anlass anzunehmen, die pharisäischen Vertreter im Hohen Rat seien anders gewesen."]

Peter Schäfer: Geschichte der Juden in der Antike. Die Juden Palästinas von Alexander dem Großen bis zur arabischen Eroberung
2., durchges. A. 2010. XXIII, 316 pages. UTB Mohr Siebeck, S. 86f.

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