5. Mai 2014

Ukraine. Ein Schatz jüdischer Kultur

"Ich bin zum ersten Mal in Ihrem Jüdischen Museum", sagt Sholom-Aleichem in Jiddisch als Grußwort zur Eröffnung des Jüdischen historisch-ethnographischen Museum von Sankt Petersburg, am 12. Mai 1914, vor genau 100 Jahren. "Mir wurden Dinge gezeigt, die mich an meine glückliche Jugend erinnerten, die ich in dem einst glücklichen Dorf Kasrylovka verbrachte. Ich bereue nicht, hierher gekommen zu sein. Ich verlasse diesen Ort mit den besten Hoffnungen. Ich würde wünschen, daß jeder Jude dieses Museum besucht, wenn bessere und fröhlichere Tage für die Juden dieses Landes kämen, wenn dieses Museum sich vergrößerte, blühte und sich in ein echt jüdisches, reiches Museum verwandelte."

Mit dieser 1:44 Minuten dauernden "Kurtsen bagrisung dem Yidishn Etnografishn muzey" beginnt die einst von CD Baby und heute anderwärts vertriebene CD Treasure of Jewish Culture in Ukraine, auf der 40 kleine und kleinste Darbietungen der Kiev Collection of Songs and Folksongs, vor Ort auf Wachswalzen des Thomas Alva Edison aufgezeichneter jüdischer Musik, für die Nachwelt erhalten sind. Sie werden Anfang des 20. Jahrhunderts gesammelt vom Schriftsteller und Ethnologen S. An-sky (Shloyme-Zanvl Rapoport, 1863 - 1920), vom Komponisten und Musikwissenschaftler Julij Dmitrievich Engel, 1868 - 1927, dem Ethnologen Zinovii Aronovich Kisselhof (1878 - 1939) und anderen. In den Jahren 1912 und 1913 reisen diese Wissenschaftler durch Wolhynien und Podolien, erforschen die dortige jüdische Musik und nehmen einiges davon auf Wachswalzen auf: verschiedene Arten der traditionellen jüdischen Volksmusik mit und ohne Gesang sowie Liturgien der Synagoge.

Die Wachswalzen bilden heute eine unerschöpfliche Quelle zur Erforschung von Kunst und Tradition der ashkenasischen Juden der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die jüdischen Gemeinden sind durch die Nazi-Barbarei ausgelöscht, die Walzen mit ihrer Musik aber werden konserviert in der ukrainischen Nationalbibliothek, der Vernadsky National Library, mit 1200 Walzen der Welt größte Fundgrube für jüdische Musik auf Wachswalzen, hauptsächlich aus der Ukraine und in geringerem Maße aus Weißrußland der Zeit von 1912 bis 1945. Das längste der Stücke, "Kale bazetsn" (hier und hier zeitgenössisch eingespielt), ein Fragment von Gesang und Klarinettenmusik zu einer traditionellen Hochzeit, dauert 4:11 Minuten, ist von Zalman Kaplan, aus Ingulets, im Mündungsdelta des Dnjepr, 70 Kilometer vom Schwarzen Meer entfernt, in der Region Kherson. Das Stück stammt aus dem Jahre 1939. Aus dem Jahr 1913 ist "Yavu adir", das kürzeste, ein Gesang zum Ende des Sabbats, aus Sudylkiv, aus der Region Wolhynien, 270 Kilometer westlich von Kiew, Dauer 0:32 Minuten. Der Sänger ist unbekannt.

Von den Walzen auf die CD übertragen worden sind die Kleinode durch die Mitarbeiter des Institute for Information Recording (IIR) der National Academy of Sciences of Ukraine (NAS) mittels einer von ihnen entwickelten Technologie. Das Begleitheft zur CD "Treasure of Jewish Culture in Ukraine" berichtet darüber, daß nach der Russischen Revolution die Arbeit der Ethnologen und Musikwissenschaftler von vor dem Ersten Weltkrieg über das "ewig verfolgte Volk" dank des Einsatzes des Ethnologen und Musikwissenschaftlers Moisei Iakovlevich Beregovskii (1892 - 1961) wieder aufgenommen wird. Er besucht von 1927 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges sowohl Kiew und Odessa, die Hauptzentren der jüdischen Kultur der Ukraine, als auch jüdische Ansiedlungen in Wolhynien, Podolien und in der Westukraine. Das Cabinet for Musical Folklore der ethnographischen Sektion des Instituts für jüdische Kultur, in Kiew, wird gegründet und 1930 durch weitere Sammlungen vergrößert. 1934 veröffentlicht Moisei Iakovlevich Beregovskii den ersten Teil eines geplanten fünfteiligen Werkes "Jewish Musical Folklore", einen Band jüdischer Gesänge, den Schatz jiddischer Musikfolklore.

Die Tochter von Julij Dmitrievich Engel schenkt dem Institut die Wachswalzensammlung ihres Vaters. 1940 schenkt Zinovii Kisselhofs Tochter Eda dem Institut die Sammlung ihres Vaters. Die Inventarliste ist vom 29. Mai 1940.

Im Zweiten Weltkrieg werden die Archive des Cabinet for Jewish Culture wie die anderer akademischer Institutionen nach Ufa im Ural ausgelagert. Nach dem Krieg kommen sie nach Kiew zurück und werden in die Vernadsky National Library verbracht. Sie werden dort weniger "vergessen", als daß sie wegen der offiziellen sowjetischen Politik, die "jüdische Frage" betreffend, vernachlässigt werden. Sie kommen erst Mitte der 90er Jahre zum Vorschein, als die Vernadsky National Library die um Kiew herum verteilten oder versteckten Sammlungen zusammenführt: Wax cylinder recordings from the An-ski expedition (Zachary Baker).

Die CD "Treasure of Jewish Culture in Ukraine" ist der Höhepunkt der jahrelangen Arbeit sowohl der Ethnologen und Musikwissenschaftler als auch der Toningenieure, die es schaffen, die Nuancen des ursprünglichen Klanges der Aufnahmen zu erhalten. Reproduktionen der Begrüßungsworte von Sholom-Aleichem, eines Porträts aus dem Jahre 1918 von Leonid Pasternak des Ethnologen S. An-sky, von Fotos der Mitglieder der Expeditionen von 1912 und 1913, den Arbeitsgeräten der Toningenieure und von Mizrach-Verzierungen aus Wolhynien, aus dem 19. Jahrhundert, finden sich im Beiheft.

Neben dem "Treasure of Jewish Culture in Ukraine" gibt es eine CD-ROM, die Materials of J. Engel Ethnographic Expedition 1912. Darin befinden sich die frühesten Aufzeichnungen von religiöser und chassidischer Musik und jüdischer Volksmusik von Julij Dmitrievich Engel, aus dem Jahre 1912.

Es wäre wunderbar, wenn aus den Kostbarkeiten dieser Musikarchive der Vernadsky National Library weitere CDs entstehen würden, schreibe ich am 5. April 2005. Was ist daraus geworden?

Ich wünsche dem Land und seinen Menschen Frieden!

Text und Links aktualisiert, 5. Mai 2014