3. April 2011

Die Juden Palästinas und Algeriens. Trennung von Religion und Staat

[1. Palästina, um 200 v. Chr. ] Dem Kultpersonal (Priestern, Tempelschreibern und Tempelsängern) wird dauernde Steuerbefreiung zugestanden; dies entspricht der quasi-staatlichen Stellung des Heiligtums. Neu ist möglicherweise, daß zusammen mit der Gruppe des Tempelpersonals (und sogar an ihrer Spitze) die Gerusie, also der Ältestenrat, erwähnt wird, der sich in dieser Zeit vornehmlich aus der Aristokratie rekrutierte (ob ausschließlich aus dem Laienadel oder auch aus dem Priesteradel, ist umstritten; wenn der Priesteradel nicht zur Gerusie gehörte, könnte man hier die "beginnende Emanzipation der Aristokratie von der Hierokratie erkennen" [Hans G. Kippenberg]. (Seite 38)

Die "konservativen" torahtreuen Schichten, die sich überwiegend aus der ärmeren Stadt- und insbesondere Landbevölkerung zusammensetzten, waren von der griechischen Bildung und der zukünftigen Polis zweifellos ausgeschlossen und damit praktisch entrechtet. So vollzog sich sicher nicht mit einem Schlage, sondern schrittweise die Umwandlung Jerusalems in eine Polis nach griechischem Vorbild. Josephus, der den Vorgang chronologisch wahrscheinlich falsch (d.h. erst unter Menelaos) einordnet, trifft dennoch den entscheidenden Punkt:

"Sie (= die Hellenistenpartei) erklärten ihm (= dem König), daß sie die väterlichen Gesetze und die ihnen entsprechende Verfassung (politeia) aufgeben und den königlichen Gesetzen folgen sowie die hellenistische Verfassung haben wollten. Sie baten ihn daher um die Erlaubnis, in Jerusalem ein Gymnasium bauen zu dürfen." (Antiquitates XII, 5,1)

Die vollzogene Umwandlung Jerusalems in eine Polis setzte somit letztlich die Torah als Verfassung des jüdischen ethnos außer Kraft und bedeutete die Aufhebung des von Antiochus III. erlassenen Ediktes (das im Grunde ja nur eine Bestätigung der aus der Perserzeit datierenden alten Rechte war) und damit die völlige Abkehr vom jüdischen Tempelstaat, wie er seit Jahrhunderten bestanden hatte. Zwar blieben die religiös-kultischen Belange der Torah (zunächst) unangetastet, doch wurde die ursprüngliche Einheit der Torah als Staatsverfassung und religiöse Norm erstmals in einen "rein" religiösen und einen politischen Aspekt aufgespalten. (Seiten 44f.)

Peter Schäfer: Die Juden Palästinas von Alexander dem Großen bis zur arabischen Eroberung
2., durchges. A. 2010. XXIII, 316 pages. UTB Mohr Siebeck

[2. Algerien, 1870] Die Juden hofften damals, von der türkischen Herrschaft befreit zu werden, unter der sie gemäß dem Ausspruch eines zeitgenössischen Rabbis "in der Vergangenheit gedemütigt, in der Gegenwart in Angst und Schrecken versetzt, für die Zukunft beunruhigt" lebten. Aber wenn sie damals die Franzosen willkommen hießen, während sie beispielsweise gegen eine spanische Eroberung waren, dann deshalb, weil Frankreich sein Ruf und vor allem seine revolutionäre Losung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vorausging, die nichts anderes konnte, als zur Zustimmung einer minoritären Bevölkerung führen, die Zielscheibe systematischer Demütigungen und von Pogromen war.

Die jüdische Körperschaft äußerte auch schnell den Wunsch, in die französische Nation eingegliedert zu werden. Dieser Wunsch ist von allen Regierungen, die einander bis 1870 folgten, positiv aufgenommen worden. Weil die Juden im Hinblick auf den Abschluß der Eroberung und der Befriedung des Landes Verbündete und Vermittler waren, deren Integration darüber hinaus vereinfacht wurde durch die Vertragsannahme, mit der sie ihr Einverständnis erklärten, die rabbinischen Gesetze aufzugeben, die bis dahin ihr Familienleben geregelt hatten. Verschiedene Texte haben so eine Entwicklung abgesteckt, die in die Verordnung vom 24. Oktober 1870 mündete, die Décret Crémieux genannt wurde nach dem Namen seines Hauptinitiators und Unterzeichners, dem tatsächlichen Autor, er selbst Jude, der politischen Förderung des algerischen Judaismus.

Il y a 40 ans dans L'Arche. Le 100e anniversaire du décret Crémieux. Par Raphaël Draï, 
L'Arche n° 164, novembre 1970. In: L'Arche 630-631, novembre-décembre 2010, p. 8

Übersetzung: Gudrun Eussner, 24. November 2010